Fruehstueck mit Proust
zugleich beruhigende Antwort: Weil sich nichts änderte. Es gab eben etwas, das kein Alter hatte, ein vages Gefühl, dem lange die Illusion anhaftete, unsterblich zu sein und nicht zu altern. Dieses Etwas zu benennen war wichtig – aber was war es?
Mamoune
J ade ist wieder in ihren Roman eingetaucht. Seufzend sitzt sie vor dem Computer und kritzelt in dem Ausdruck herum, in dem ich meine Anmerkungen notiert habe, streicht wutentbrannt ganze Passagen, tritt auf den Balkon hinaus und schaut nach den jungen Pflänzchen in ihren Töpfen … »In ihren Sätzen« hätte ich fast gesagt. Denkt man nicht in Bildern? Warum sehe ich auf einmal geschriebene Sätze vor mir? Ich muss mich besser kontrollieren. Und jetzt streicht sie ganz zart über ein Blatt und schaut ins Leere; da sie anscheinend nichts aus diesem apathischen Zustand holen kann, glaube ich, dass sie tatsächlich im Begriff ist, ihren Roman völlig neu zu lesen. Fühlt sie sich nackt vor diesem Text, der aus ihrem Inneren kommt und den sie bislang nicht sehen wollte? Sie geht nicht ans Telefon, wirft nur einen kurzen Blick auf den Namen eines Anrufers. Und mindestens einmal am Tag stellt sie mir beunruhigt Fragen.
»Mamoune, meinst du, ich verstecke mich hinter dem, was ich schreibe?«
»Ich meine, das ist immer noch besser, als wenn du sichtbar wärst hinter dem, was du schreibst.«
»Weißt du, ich verstehe schon, was du mir sagen willst, aber ich kann es in meinem Roman nicht erkennen.«
Sie sieht mich mit gerunzelter Stirn und mit dieser verlegenen Miene an, die sie schon als kleines Mädchen aufsetzte, wenn sie mir ein schlecht auswendig gelerntes Gedicht aufsagte.
»Mach dir deine Schwächen zunutze, mein Schatz. Wie im richtigen Leben. Dreh die Münze um, damit man die goldene Seite sieht …«
»Wo holst du das bloß alles her, Mamoune?«
»Ich bin schon alt auf die Welt gekommen. Habe ich dir das nicht gesagt? Ich bin eintausendeinhundertachtzig Jahre alt.«
»Weißt du, dass ich manchmal versuche, mir vorzustellen, wie ich in deinem Alter sein werde?«
»Jaja, ich stelle mir auch immer vor, ich wäre in deinem Alter.«
»Mamoune! Du hast mich genau verstanden. Du weißt, wie es in meinem Alter ist, aber ich habe keine Ahnung von deinem.«
»Ich glaube auch nicht, dass das notwendig ist. Du lebst jetzt, nutz das aus!«
»Du bist wirklich nicht so wie die meisten Großmütter.«
»Meinst du, nicht so unausstehlich und fromm?«
»Zum Beispiel …«
»Keine Angst, das kann ja noch kommen … Ersteres jedenfalls, denn mit dem lieben Gott, na ja … mit dem habe ich noch ein paar Hühnchen zu rupfen! Los, mach dich wieder an die Arbeit, ich bring dir eine Kleinigkeit zu essen.«
Während ich die Äpfel in den Backofen schiebe, erinnere ich mich, dass Jade heute Abend mit Rajiv ausgehen will. Sie macht sich Sorgen um mich. Ich gehe früh ins Bett und lese noch ein paar Seiten. Was soll mir schon passieren?, habe ich ihr geantwortet. Jade besteht darauf, dass ich der spanischen Nachbarin Bescheid sage, falls ich mich unwohl fühlen sollte. Sie scheint sich nicht denKopf darüber zu zerbrechen, dass meine Anwesenheit ihre Freiheit bedrohen könnte. Ich bewundere ihre Entschiedenheit und ihr Organisationstalent. Sie wird einmal eine gute Mutter sein! Sie lässt es sich nicht nehmen, mir mein Abendessen zuzubereiten, bevor sie geht. Ich lasse mich bereitwillig von ihr verwöhnen, weil ich weiß, das es die einzige Bedingung für ihre Seelenruhe ist. Mein gefallener Blutdruck stellt unser Zusammenleben in Frage. Ich respektiere ihre Angst, und ich versuche alles zu tun, um sie vor ihren Tanten zu schützen, wenn mir etwas zustößt.
Sie stellt mir immer aufs Neue Fragen zu meinen Jahren als heimlicher Leserin. Ich habe dich immer nur mit der Bibel gesehen, wo hast du dich zum Lesen versteckt?
Sie vergisst, dass ich eine Schar sehr kleiner Kinder hütete, die sich nichts dabei dachten, wenn ich mich über Rezepte oder welches Buch auch immer beugte. Sie erinnert sich nicht an die langen Sonntagnachmittage, an denen ich in die Kirche ging, an meine Ausflüge in die Berge, wo mich der Schafstall meines Vaters mit den wenigen Büchern empfing, die ich vor Blicken geschützt besitzen konnte. Ich habe so oft in der Natur gelesen, dass sie in meiner Erinnerung zum Inbegriff einer Bibliothek geworden ist. Ich lag auf dem fliegenden Teppich aus Gras oder lehnte mit dem Rücken an einem Felsen im Wald, die Wolken waren meine Bücherregale, und der Duft
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