Fruehstueck mit Proust
Texte, die sie doch niemals kennenlernen werden. Ich weiß um diese Ungerechtigkeit, Jeanne.«
Er schwieg einen Moment und blickte ins Leere, dann sprach er weiter.
»Vielleicht kann ich in den Menschen lesen; nur meine eigene Frau habe ich nie durchschaut. Sie hat sich immer nur fürs Sticken interessiert. Und ich mich fürs Fabulieren. Wie hätten wir da eine Gemeinsamkeit finden können.«
»Aber Sie haben sie doch geheiratet«, bemerkte ich schüchtern.
Sein Lachen klang traurig.
»Oh, nein, meine liebe Jeanne, in unseren Familien sind es die Ländereien, die einander heiraten; die Menschen arrangieren sich damit.«
Danach haben wir, glaube ich, über Literatur und Schriftsteller gesprochen. Die Zeit verging im Fluge. Sie schien mir kurz, aber sie war sehr lang. Das merkte ich, als ich ihn verließ. Es war fast Nacht. An einem Punkt des Gesprächs sagte er, er freue sich, dass ich mich um die kleine Clémentine kümmern würde.
»Ich werde sie Ihnen Samstag zur vereinbarten Zeit bringen, und Sie nehmen sie dann mit in die Berge. Und ich … ich werde versuchen, mich auf dem Weg der Genesung in Geduld zu üben.«
Er machte eine Geste der Erschöpfung, dann fasste er sich wieder und lächelte.
»Ich bin glücklich, Sie kennengelernt zu haben, Jeanne.«
Beim Abschied überreichte er mir zwei Schlüssel und erklärte, der größere sei für das Tor und der goldene für die Tür vom Turm, durch die man zur Bibliothek hinaufgelangte, ohne den Umweg durch das ganze Schloss nehmen zu müssen.
»Auf dem Weg nach draußen werde ich es Ihnen zeigen. Kommen Sie her, wann immer Sie möchten. Leihen Sie sich aus, worauf Sie Lust haben oder was Sie brauchen. Ich werde meine Bediensteten informieren, dass Sie für mich arbeiten, dass Sie mir dabei helfen, die Bücher zu klassifizieren, oder etwas recherchieren.«
Als Dank fiel mir nichts ein, was meiner Freude und meiner Verwirrung angemessen gewesen wäre. Es tat beinah weh.
»Warum tun Sie das?«
»Liebe Jeanne. Sie sind noch jung, und ich weiß nicht, wie lange ich noch auf dieser Erde sein werde. Sie sind zweifellos die Lesegefährtin, nach der ich mich schon seit Jahren sehne. Und ich habe Ihnen noch nicht gesagt, was ich mir zum Tausch für diese Schlüssel von Ihnen wünsche.«
Ich stotterte, es sei doch hoffentlich nichts, was ich ihm ausschlagen müsste. Er schien sich sehr zu amüsieren.
»Gewähren Sie mir von Zeit zu Zeit das Vergnügen einer gemeinsamen Tasse Kaffee, damit wir über Ihre Lieblingsbücher reden können, wie heute. Vor sehr langer Zeit, damals war ich noch jung, kannte ich einige Frauen, die Bücher mit dem gleichen Blick betrachteten wie Sie, erfüllt von einer Leidenschaft, die Männer durchaus eifersüchtig machen könnte, wenn sie sie nur bemerkten. Wissen Sie, wie die Männer sind? Sie belauern den Feind stets dort, wo sie ihn vermuten, und haben keine Ahnung von seiner tatsächlichen Macht und seinem wahren Versteck. Weiß Ihr Mann, dass Sie eine solche Liebhaberin der Literatur sind?«
Mein schreckerfüllter Blick sagte genug, um ihn das Ausmaß meiner Lüge erahnen zu lassen.
»Ich wüsste nicht, was Sie das angeht!«
Er lachte.
»Wie dem auch sei, Sie müssen nicht befürchten, dass ich Ihr Geheimnis verrate. Wo Sie sich schon Bücher als Liebhaber genommen haben, können Sie sich ruhig auch noch einen Bücherbesitzer zum Freund nehmen. Sie sind ein Geschenk des Himmels. Ich bitte Sie, Jeanne, nehmen Sie diese Schlüssel an und teilen Sie Ihre Leseeindrücke mit mir. Und vor allem, nennen Sie mich Henri und nicht Herr Graf.«
So begann diese schöne Freundschaft. Ich weiß nicht, ob ich Jade davon erzählen werde. Sicher wird sie wissen wollen, ob ich diesen Mann geliebt habe. Zweifellos habe ich das. Auf meine Art. Es war reine Freundschaft; Verliebtheit hatte darin keinen Platz. Ich war eine bescheidene Frau, deren Aufstieg niemanden beeindruckt hätte, denn es war kein gesellschaftlicher Aufstieg. In diesem gebirgigen Winkel Frankreichs, in dem die Bauern Gelehrsamkeit mit Reichtum gleichsetzen, war mir, als besäße ich einen Schatz voller Licht, dem Licht der Wörter.
M amoune hatte kaum etwas von ihrem Tag erzählt. Aber sie schien nachdenklich, fast verärgert. Den ganzen Vormittag lang hatte sie aufgeräumt, dann hatte sie die Zeitungen gelesen, während Jade sich wieder an den Computer setzte. Zur Mittagszeit hatte sie ihrer Enkelin einen gemischten Salat zubereitet. Sie hatte einen Teller zerbrochen und
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