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Fruehstueck mit Proust

Fruehstueck mit Proust

Titel: Fruehstueck mit Proust Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frédérique Deghelt
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der Almweiden vermischte sich mit dem meiner Lektüren.
    Und dann lernte ich eines Tages jemanden kennen, der mein bester Freund werden sollte und der einzige Mensch, der in meine Bücherliebe eingeweiht war. Er hatte mich gebeten, ihn in seinem Schloss bei Annecy zubesuchen. Kurz zuvor von einer schweren Operation genesen, konnte er sich nicht mehr richtig um seine Enkelin kümmern, und da er von meinem guten Ruf als Ersatzmama gehört hatte, bat er mich, seine kleine Clémentine für zwei Wochen mit in unser Haus auf die Alm zu nehmen. Er musste so um die siebzig sein. Und ich war damals auch schon Ende sechzig. Es war schon eine seltsame Begegnung. Er war groß und in seinen Gesten ganz der Aristokrat, doch ohne jede Arroganz. Er empfing mich in seiner Bibliothek. Was für ein Ort! Ich hatte noch nie so viele schöne Bücher gesehen; als er einen Augenblick aus dem Raum ging, um einen Kaffee für uns zu bestellen, war ich wie hypnotisiert. Ich stand auf und griff wie in einem Traum nach einer der kleinen Holzleitern, die überall an den Regalen lehnten. Ich streichelte sanft über die Bücherrücken, bevor ich es wagte, eines der Werke herauszunehmen. Ich schnupperte an den Seiten, die den Duft eines erhabenen Mysteriums zu verströmen schienen. Ich konnte nicht die Augen lassen von so viel Schönheit. Mein Blick eilte gierig über die Titel, bis ich auf einen wunderschön gebundenen Montaigne stieß, den ich zuerst gar nicht in die Hand zu nehmen und aufzuschlagen wagte. Mit klopfendem Herzen, jedes Zeitgefühl war verflogen, habe ich schließlich nach ihm gegriffen. Die Seiten waren so dünn, als könnten sie sich in einem Rascheln zerteilen. Ein leichtes Räuspern, der Graf war zurück und sah mir schweigend zu. Verlegen stellte ich das Buch an seinen Platz zurück, so natürlich wie möglich. Als ich wieder hinuntergestiegen war und ihm gegenübersaß, blickte der Graf mich sehr lange an. Und da erkannte ich, dass der alte, kränkliche Großvater von Clémentine, den zusehen ich gekommen war, in Wirklichkeit der schönste Mann war, dem ich je begegnet bin. Er lächelte, und sein weißes, gewelltes Haar gab ihm etwas von einem Weisen. In seinem stahlblauen Blick funkelte es von Schalk. Ich fühlte, wie meine glühenden Wangen mein Gesicht zum Lodern brachten. Mit fast sechzig schmolz ich unter dem feurigen Blick eines Schlossherrn dahin! Ich verkroch mich in meiner Kaffeetasse. Er hatte immer noch nichts gesagt, und dieses Schweigen war berauschend.
    »Sie lesen gern, nicht wahr? Lieben Sie Bücher?«
    Ich empfand diese Frage als Ohrfeige. An meine absolute Einsamkeit als Leserin gewohnt, hatte ich nichts begriffen. Er war bewegt, jemanden zu treffen, der ein ebenso leidenschaftlicher Leser war wie er. Mit leicht bebender Stimme fuhr er fort:
    »Sie sind wie ich. Sie lieben die Begegnung mit einem in einem Roman begrabenen Traum. Sie lieben es, wenn sich in der Literatur der Schmerz an die Finsternis hängt, um daraus Licht zu machen. Ich weiß es, ich fühle es. Ich habe Sie beobachtet, seit Sie auf die Leiter gestiegen sind. Schon als ich Sie auf die Bücher zugehen sah, wusste ich, wer Sie sind …«
    Das ist nun viele Jahre her, doch ich glaube nicht, dass meine Erinnerung mich täuscht, wenn ich an die Worte zurückdenke, die Henri an jenem Tag zu mir sagte. Sie haben sich mir eingeprägt und sollten nie wieder verblassen. Ich hörte ihm erstaunt zu. Noch nie hatte jemand so zu mir gesprochen. Ich dachte nicht einmal mehr an meine unhöfliche Schnüffelei in seiner Bibliothek. Er wartete auf eine Antwort von mir. Und bestimmt habe ich gestottert.
    »Ich glaube, Sie haben mit allem recht. Ja … Danke,dass Sie mir das gesagt haben … Und so schön gesagt. Aber …«
    »Ich habe einmal davon geträumt, Schriftsteller zu werden, Jeanne, Sie erlauben doch, dass ich Sie so nenne?«
    Einen Augenblick schien er sich in der Vergangenheit zu verlieren. Und ich wollte ihm doch sagen, dass er mein Geheimnis entdeckt hatte.
    »Was Sie da eben sagten … Sie sind der Einzige, der es weiß.«
    »Der
was
weiß?«
    »Es ist schwierig zu erklären, aber da, wo ich herkomme …«
    »Ach, Jeanne, ich weiß … Das Recht auf Bildung ist den Reichen vorbehalten. Ein Armer, der lesen gelernt hat, kann sich mehr schlecht denn recht im Universum der Sprache bewegen, wohlgemerkt, in der Welt der Buchstaben, nicht der Literatur! Und die Gescheitesten unter ihnen bekommen höchstens eine sehnsuchtsvolle Ahnung all der schönen

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