Fruehstueck mit Proust
aufsteckte, wurde Jade klar, dass sie sich nie die Frage gestellt hatte, was sie eigentlich sagen wollte. Um sich von den Zwängen ihres Berufs zu befreien, hatte sie ohne Ziel und Plan drauflosgeschrieben, mit totaler Freude und einem unvergleichlichen Gefühl von Freiheit … Aber jetzt …
Schon morgens beim Aufstehen nahm sie in der blumengeschmückten Wohnung den zarten Duft von Veilchen und Rosen wahr, und sie lächelte bei dem Gedanken, dass ihr Chaos nun von der Anwesenheit ihrer Großmutter geprägt wurde. Diese freundliche Sanftheit begleitete sie auch, wenn sie wutentbrannt die Seiten vollschrieb oder wie ein Holzfäller ganze Teile ihres Textes rausschmiss. Mamoune hatte gesagt, Abholzen sei notwendig, damit der Wald nicht erstickte. Ein paar gewöhnliche Bäume mussten geopfert werden, damit die selteneren Gewächse sich entfalten konnten. Ein Satz, aus dem Jade die beiden sich umeinander rankenden Frauen heraushörte: die Bergbäuerin Mamoune und die Gelehrte Jeanne.
An diesem Tag hätte Jade Mamoune einige Passagen gern noch einmal vorgelesen, aber sie hatte abgelehnt.
»Arbeite weiter, mein Schatz«, sagte sie. »Ich lese mir die Endfassung lieber in einem Zug durch, sonst komme ich durcheinander. Das Bild in deinem Schlafzimmer gefällt mir übrigens sehr gut«, fügte sie hinzu, »ich vergesse immer, es dir zu sagen.«
»Es ist von Klimt«, erwiderte Jade, immer noch mitihrer Korrektur beschäftigt. »Es heißt
Drei Lebensalter
. Möchtest du wirklich alles noch einmal lesen?«
»
Drei Lebensalter
? Verstehe ich nicht, da sind doch nur zwei zu sehen, Mutter und Kind.«
Diesmal schaute Jade von ihrem Manuskript hoch.
»Die meisten Reproduktionen von diesem Gemälde zeigen nur einen Ausschnitt. Auf dem vollständigen Original gibt es noch eine dritte Frau. Sie ist die älteste …«
Sie unterbrach sich, als ihr bewusst wurde, was sie da sagte.
»Ich habe es so geschenkt bekommen, aber mit allen drei Figuren mag ich es auch lieber.«
Mamoune gab keine Antwort. Sie rieb sich die Hände und nickte. Jade betrachtete sie und sagte sich, dass sie von Tag zu Tag jünger zu werden schien. Sie nahm ihre Hand.
»Komm, ich zeige dir, wie das ganze Bild aussieht, wenn man dein Alter nicht weglässt … Bei der Gelegenheit kannst du lernen, wie man im Internet Bilder findet.«
Vor einiger Zeit hatte Mamoune etwas schüchtern gefragt, ob sie ihr wohl beibringen könne, wie man mit dem Computer umgeht, und sie wolle auch, sagte sie, »dieses Internetzeugs mal ausprobieren«. Jade war überrascht und fand Gefallen an der Sache … Sie hatte ihr erklärt, wie man sich über den Bildschirm bewegt und wie man Recherchen anstellt. Mamoune stellte sich zunächst etwas ungeschickt mit der Maus an und war vor allem extrem langsam, aber sie lernte mit einem solchen Eifer, dass Jade ihre Ungeduld vergaß. Mamoune übte, wenn sie nicht zu Hause war, wie Jade es ihr geraten hatte. Eines Tages aber war eine Datei mit einem Artikel verschwunden,den Jade gerade fertiggeschrieben hatte und abgeben musste.
»Bestimmt hast du sie aus Versehen angeklickt und irgendwohin kopiert, versuch dich zu erinnern«, sagte Jade, aber Mamoune blieb dabei, sie habe die Datei nicht angerührt, was ihre Enkeltochter vor Wut rasen ließ. Sie brauchte zwei Stunden, um die Datei wiederzufinden, doch in dem festen Glauben, der Artikel wäre für immer verloren und gelöscht, machte sie Mamoune solche Vorwürfe, dass diese anfing zu weinen. Etwas später, aber eben zu spät, entschuldigte sie sich, dass sie ihr so zugesetzt hatte, und bat sie inständig, dem Computer nicht abzuschwören und »das Ding«, wie sie es nannte, weiter zu benutzen. Sie überzeugte sie schließlich mit dem Hinweis, dass man nur durch regelmäßige Praxis eine glücklichere Hand bekäme und weniger Fehler mache. Jede neue Eroberung des Gerätes faszinierte Mamoune, und ihre Begeisterungsfähigkeit war Balsam auf Jades Herz.
Eines Tages sah sie ihre Großmutter ganz nachdenklich vor dem Bildschirm sitzen, aber nicht ratlos, eher wie abwesend. Doch kopfschüttelnd winkte sie ab, als Jade ihr helfen wollte.
»Ich habe mich nur gerade an den Tag erinnert«, sagte sie nach einer Weile, »an dem im Haus meiner Eltern Strom gelegt wurde. Und an jenen anderen Tag, als mein Bruder und ich in einer vergilbten alten Zeitung den Bericht von Charles Lindbergh über seine erste Atlantiküberquerung lasen … Meine Eltern hatten die Zeitung aufgehoben, weil sie aus dem Jahr
Weitere Kostenlose Bücher