Fuchserde
Frau«, sagte sie ruhig. »Wir lieben einander. Deshalb haben wir keine Geheimnisse voreinander; kein einziges, dessen Offenbarung dem anderen zu mehr Glück verhelfen würde.«
Noch am selben Abend legte ich vor ihren Augen mein Armband wieder an. Nicht wegen dessen Wirkung, sondern weil ich für mich erkannt hatte, dass es zum Symbol meiner Liebe zu ihr geworden war.
Viele Sommer später, an einem drückend schwülen Abend, nachdem deine Urgroßmutter und ich in einer hohen Wiese unsere Körper vereint hatten, hörten wir den Regen kommen bevor er fiel. In den Blättern der Bäume hörten wir ihn, wie er zu uns kam. Langsam legte er sich über den nahen Birkenwald, bewegte sich immer näher. Anfangs langsam und sanft.
»Nun wird es donnern«, sagte deine Urgroßmutter. Und tatsächlich donnerte es kurz darauf. »Und jetzt kommt der Blitz«, sagte sie. Und es kam der Blitz. »Wind kommt auf«, wusste sie. Und die Blätter wurden geschüttelt. »Stark und stärker«, sagte sie. Auf einmal kam der Regen, rasend schnell kam er über uns, wie ein Wasserfall. Schwere Tropfen gingen nieder. »Noch viel stärkerer Regen«, sagte sie, und breitete die Arme aus. Und dann war er da, der Regen meines Lebens. Regen vor uns, Regen über uns, zu uns, auf uns, Regen in allen Poren, in uns. Regen. Das Wasser des Himmels.
»Ein Geschenk!«, schrie Frida und streckte ihre nackten Arme noch energischer in die Höhe, die Handflächen nach oben gewandt. Ihre dünne Bluse klebte nass an ihrer Haut, ihr Rock hing triefend an ihren Hüften, der Regen prasselte nieder, schoss auf uns ein. Der Wind riss die nahen Bäume hin und her, ließ sie stöhnen, poltern und drohend aneinander schlagen im Sturm. Ein Gemisch aus gewaltigem, nassen Lärm, brausend und wild. Donnerschläge und Blitze, immer näher, immer lauter, immer heller. Dann ein Donnerschlag direkt über uns. Er erschütterte mein Innerstes, gewaltig und mit schier unendlicher Macht. Gleich darauf war es gleißend grell um uns. Mehr als ein Blitz. Hell wie im Kern der puren Sonne. Nicht nur über uns. Rund um uns, ja in uns war es heller als hell. Und dann passierte es: Dann bebte die Erde und deine Urgroßmutter schwebte durch die Luft. Ganz langsam und wie im Märchen kam es mir vor. Begleitet wurde ihr Flug von einem Beben, als hätte Gott seinen Fuß auf die Erde getan.
Ich hatte kaum begriffen, was geschehen war. Hatte kaum Zeit, Angst zu haben, weder um mich, noch um Frida. Ich kam nicht so weit, mich um sie zu sorgen. Nur mein Blut schoss mir in den Kopf. Mein Herz schlug schnell und meine Pupillen weiteten sich, wie jene des Wolfes bei Gefahr. Frida lag im Matsch. Gerade noch war sie tanzend und jauchzend dicht neben mir gewesen, hatte gebebt vor Leben. Nun lag sie einige Meter vor mir im Dreck und rührte sich nicht. Fridas Leib dampfte im Regen, der noch immer unvermindert stark auf uns niederging. Es schien, als würde das nasse Getöse sie noch tiefer in die Erde drücken. Noch einmal bebte die Erde. Und dann hörte ich ihr Lachen, ihr lautes, kehliges Lachen. Sie lag auf dem vom Regen aufgerissenen, ausgespülten, schlammigen Boden und lachte. Sie richtete sich auf, riss die Arme empor und schrie so gewaltig gen Himmel, dass ich dachte, sie sei nicht von dieser Welt: »Danke! Oh Gott! Danke!« Ihr Blick, mein kleiner Fuchs, ihr Blick erreichte in diesem Moment Horizonte, die nur sie sehen konnte.
Deine Urgroßmutter hatte Gottes Natur gelebt, hatte sein Angesicht gesehen, seinen heißen Atem auf der Haut gespürt, seine Tränen, seine gütige Emotion – und wir vertrauten ihm, vertrauten seiner Natur. Deine Urgroßmutter dankte ihm für das Geschenk, ihn so nahe gespürt zu haben. Sie war so glücklich, wie ich sie zuvor noch nie gesehen hatte. Und es waren Tränen des Glücks, der Rührung, der Dankbarkeit und der Demut, die sich mit dem nun schwächer werdenden, reinigenden Regen auf ihrem Gesicht verbanden und zu Boden fielen.
Zum Schluss machte uns Gott noch ein Abschiedsgeschenk: Einen letzten Blitz am nahen Horizont, der den Himmel über uns in sattem Blau aufleuchten ließ, beruhigend wie ein Gute-Nacht-Kuss, und flüchtig, als sei nichts geschehen.
5.
Seine Leute schätzten Luca Resulatti. Nicht zuletzt, weil er sie von Anfang an mit allerlei einträglichen Kniffen und Scharlatanerien verblüfft hatte. Dass es der neue Direktor aber zu Wege bringen würde, jemandem das älteste Arbeitspferd des Zirkus anzudrehen, das wollte kein einziger glauben.
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