Fuchserde
oder sehnsüchtig darauf zu warten. Es ist da. Jetzt und hier. Du musst nur deine Augen, deine Ohren, deine Nase und dein Herz öffnen. Dann spürst du es.«
Luca hielt kurz inne.
»Weißt du, Giorgio, viele Menschen leben im Paradies und schätzen es gar nicht. Manche bemerken es nicht einmal. Sie rennen und rennen, um es zu suchen, und erkennen dabei gar nicht, dass sie in Wirklichkeit bloß im Kreis laufen. Oft tut es gut, stehen zu bleiben, die Ruhe und die Freude in sich zu beobachten, tief in sich zu sinken, zu fühlen und dann, aufgeblasen vor lauter Glück, Danke zu sagen. So erst merkst du, wie froh du bist und welches Paradies in dir wohnt.«
Der kleine Giorgio lächelte. Er lächelte in diesem Augenblick nicht wie ein Kind. Er lächelte wie ein Erwachsener, dem das Mysterium des Glücks offenbart wurde. Giorgio befreite sich von seiner Decke, die Barbara um ihn gehüllt hatte, wandte sich zu ihr und gab seiner Mutter einen dicken Kuss. Dann sprang er auf seinen Vater und küsste auch ihn. Auch der daneben sitzende Luca bekam einen Kuss, so wie alle in der Runde. Alle wurden mit seiner Freude beschenkt. Als er die ganze Sippe niedergeküsst und umarmt hatte, ging er die drei, vier Schritte vor zum Lagerfeuer, breitete seine Arme aus, holte tief Luft und sagte: »Danke, lieber Gott. Danke für das Paradies.«
Nachdem die funkelnden Sternschnuppen, die der kleine Giorgio in die Herzen der Familie gezaubert hatte, verglüht waren, machte sich einer nach dem anderen daran, schlafen zu gehen. Manche zogen sich in ihre hölzernen Wohnwagen zurück, andere hatten sich ein paar Schritte abseits rund ums Feuer weiche Betten aus Laubzweigen und Stroh gebaut. Schließlich saßen nur noch Luca und die Großmutter von Anna und Barbara dicht um die Feuerstelle. Luca nahm gerade einen tiefen, weichen Zug aus seiner Pfeife, als die Großmutter aufsah und leise sagte: »Ich bin stolz auf dich, Luca.« Luca ahnte warum, aber er wollte es so gerne hören. »Warum?«, fragte er deshalb und tat überrascht.
»Weil du unserer Familie gerade das Paradies geschenkt hast. Und weil du dir Mühe gibst, es immer wieder zu tun. Du bist ein guter Leitwolf.«
Luca lächelte. Dann flüsterte er: »Und jetzt hast du mir das Paradies geschenkt.«
»Ja, so einfach geht das, wenn man sich traut, sein Herz zu öffnen«, freute sich die Großmutter und Luca freute sich mit ihr.
Die beiden saßen schweigend beisammen und schauten in das vergehende Feuer. Luca legte schließlich frisches Laub über die Glut, denn sie sollte sanft die ganze Nacht hindurch leuchten und die im Kreis Schlafenden behüten. Dank der Abdeckung würde die Glut lange glosen und am Morgen leicht wieder zu entflammen sein.
Luca glaubte, die Großmutter sei in ihrem Deckenberg bereits eingenickt. Ihre Augen waren schon lange geschlossen, da sagte sie plötzlich mit wacher Stimme: »Glaubst du wirklich, Luca, dass wir hier vor den Faschisten sicherer sind als in Italien?«
Luca antwortete nicht gleich. Er legte weiter Laub über die Feuerstelle. Dann wandte er sich zur Großmutter, legte seine rechte Hand auf ihre Schulter und bemühte sich, unbeschwert zu wirken: »Ja, hier sind wir sicher. Aber du kannst«, fügte er betont neckisch hinzu, »wenn du mir nicht traust, ja in deine allwissende Glaskugel glosen*.«
Die Großmutter blieb ernst. Sie sah kurz zu den Sternen und dann in sein Gesicht. »Das habe ich schon getan, Luca. Aber ich würde lieber dir glauben.«
* * *
Im Oktober 1922 führte Benito Mussolini seine Privatarmee, die so genannten Schwarzhemden, zum »Marsch auf Rom«. Mit dieser Gewaltdemonstration zwang er Italiens König, ihn an die Regierungsspitze zu berufen. Durch rücksichtslosen Machtgebrauch und Terror gelang es der faschistischen Minderheit, die Staatsgewalt ab 1926 vollständig zu übernehmen. Italien wurde zur Diktatur, die Menschen- und Bürgerrechte, etwa Versammlungs-, Meinungs- und Pressefreiheit beseitigt. Im Oktober 1936 schloss Italien mit dem nationalsozialistischen Deutschland Adolf Hitlers die so genannte Achse Berlin-Rom. Damit nahmen auch in Italien rassistisch motivierte Gewaltakte zu.
In Österreich verbot der christlichsoziale Bundeskanzler Engelbert Dollfuß nach Terrorakten im Juni 1933 die Nationalsozialistische Partei. Nach einem Aufruhr des Schutzbundes und einem kurzen Bürgerkrieg wurde im Februar 1934 auch die Sozialdemokratische Partei verboten, im Mai 1934 trat eine autoritäre Verfassung
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