Füge Dich! (German Edition)

zweites Mal, doch auch dieses Mal wurde keine Verbindung hergestellt. Waren sie umgezogen, weil man sie mit der Schande ihrer Tochter konfrontiert hatte?
    Alina stellte sich vor, wie die Leute mit den Fingern auf ihre Eltern zeigten und hinter ihrem Rücken tuschelten. Sie schämte sich so. Was hatte sie ihnen nur angetan?
    Dennoch und vielleicht gerade deshalb musste sie sich bei ihnen melden. Aber wie konnte sie ihren Aufenthaltsort herausbekommen?
    Ricky, der in diesem Moment grinsend zur Tür hereinkam, würde sicher eine Idee haben. Nachdem er ihr überschwänglich von seiner erfolgreichen Aktion das Video betreffend berichtet hatte – der Film war von der Internetseite genommen und die beiden Gewalttäter dermaßen eingeschüchtert worden, dass sie aus Angst auch gleich alle anderen Sexfilme von ihren PCs gelöscht hatten –, erzählte Alina ihm von ihrem Anruf. Ricky wusste auch diesmal Rat.
    Wie die beiden schon vermutet hatten, war die neue Nummer im örtlichen Telefonbuch ihrer Heimatstadt nicht eingetragen. Ricky beschloss kurzerhand, die Nachbarn von Alinas Eltern unter einem Vorwand anzurufen und sich dort über deren Verbleib zu erkundigen.
    Er schien mit seiner Frage in ein Wespennest gestochen zu haben. Der aufgeregte Wortschwall drang bis zu Alina vor, wenn sie auch keine einzelnen Wörter verstehen konnte. Sie hatte Frau Hartmann als ausgesprochen geschwätzig in Erinnerung und offenbar gab es viel zu berichten.
    Rickys Gesicht wurde immer ernster, je länger die Nachbarin auf ihn einredete. Es schien wie versteinert, als er das Gespräch beendet hatte und Alina schweigend in die Augen blickte.
    Ein eisiger Hauch strich über sie hinweg, als ihr flehender Blick um die Auskunft bat, die zu hören sich alles in ihr vehement sträubte.
    Er musste sie fest umschlungen halten, als er ihr die grausame Wahrheit verkündete.
    Alinas Vater hatte einen tödlichen Herzinfarkt erlitten, nachdem offenbar geworden war, dass dieses schreckliche Video auch in die Hände von Bekannten gelangt war. Auf der Beerdigung, die in aller Stille hatte vonstattengehen sollen, war es zu einem Menschenauflauf gekommen. Die Stadt hatte ihren Skandal.
    Alinas Mutter war noch am gleichen Abend an einer Überdosis Schlaftabletten verstorben.
    Das Beruhigungsmittel, das Xiao vorbeigebracht und Ricky ihr eingeflößt hatte, ließ Alina in einen tiefen, traumlosen Schlaf sinken.
    Als sie am nächsten Morgen erwachte, hatte sie das Gefühl, dick in Watte eingehüllt zu sein. Die Erinnerung an das Geschehene drang wie durch einen Filter in ihr Bewusstsein. Ein Filter, der die Grausamkeit lediglich in winzigen Bruchstücken einließ, kleine Puzzleteile, die das Gehirn erst mühsam zusammensetzen musste und die es dazu befähigten, das ganze Ausmaß überhaupt ertragen zu können.
    Nachdem die anfängliche Starre überwunden war, schob sich ein Gesicht vor Alinas inneres Auge, dessen menschliche Züge immer mehr zu einer Fratze mutierten.
    Das Gefühl der Trauer wurde weit in den Hintergrund verdrängt und machte einem anderen, stärkeren Gefühl Platz. Einem Gefühl, das jeden Winkel ihres Geistes so vollkommen auszufüllen vermochte, dass für nichts anderes mehr Raum blieb. Der Hass war wie ein wildes, ausgehungertes Raubtier, nichts konnte ihn aufhalten, nicht einmal die Liebe zu Ricky. Er fraß sich rücksichtslos in Alinas Herz, und es gab nur eines, was ihn wieder vertreiben konnte.

Teil 2
    Rache
    Eiseskälte
    Die dein Herz
    Erstarren lässt
    Die Gedanken presst
    In eine Form
    Aus Stahl
    Eiseskälte
    Form um Form um Form
    Das gleiche Bild
    Gesicht aus Stein
    So hart
    So kalt
    Eiseskälte
    Zerschlag die Bilder!
    Form um Form um Form
    Erst wenn die Tat gerächt
    Zerspringt der Stein
    Und du bist frei
    Frei

1. Peinliche Shoppingtour
    Abermals verlief die Grenzüberschreitung ohne Kontrollen, und Alina schlüpfte nun schon zum zweiten Mal unter dem Berg aus Taschen, Decken und anderem Gepäck hervor.
    Auf dem Rückweg werde ich wieder im Besitz meines Ausweises sein!
    Mit Rickys Unterstützung hatte sie ihren Rachefeldzug genauestens geplant.
    Er hatte einsehen müssen, dass sie erst wieder Ruhe finden konnte, wenn Jens für sein Vergehen gebüßt hatte.
    Die gelungene Erpressung von Sven Andersson hatte sie auf die Idee gebracht, bei Jens ähnlich vorzugehen. Björn sich hatte sich hellauf begeistert gezeigt, als man ihn eingeweiht hatte. Er konnte es kaum erwarten, eine solche Inszenierung noch ein weiteres Mal zu