Fuenf Frauen, der Krieg und die Liebe
an, eine Handtasche, polierte Schuhe. Und sie hatte glänzende Beine. In der North Street trugen die Frauen dicke braune Baumwollstrümpfe, die oberhalb der Knie festgeknotet wurden, und Hausschlappen, auch auf der Straße. »Guten Morgen, Mrs. Pigeon.« Die Dame klang wie die Leute im Radio.
Die Kinder reckten die Hälse, um besser sehen zu können, während ihre Mutter unverrückbar wie ein Fels in der Tür stand und den Weg versperrte. Über ihrem verblichenen Hauskleid trug sie eine Schürze und sie hatte Violet auf dem Arm. Die Dame war nicht zum ersten Mal hier, bei ihrem letzten Besuch hatten sie und Mum sich gestritten und Mum hatte ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen, bevor die Kinder einen Blick auf sie erhaschen konnten. Diesmal schob die Dame rasch einen blank polierten Schuh in die Tür und sprach mit lauter, fester Stimme.
»Mrs. Pigeon, diesmal müssen Sie mich wirklich anhören! Es ist nicht die Frage, ob Krieg kommt, sondern wann er kommt, möglicherweise schon in den nächsten Tagen. Es ist absolut notwendig, dass alle Kinder in London registriert werden, damit sie an sichere Orte evakuiert werden können, außerhalb der Reichweite des Feindes. Doch weil Sie sich geweigert haben, Ihre Kinder zu registrieren, folgen Ihre Nachbarn Ihrem Beispiel. Allein in dieser Straße gibt es an die vierzig Kinder. Sobald der Krieg ausbricht, wird es für sie gefährlich oder sogar vollkommen unmöglich zu reisen. Die Regierung glaubt, dass die Hafenanlagen im East End das erste Ziel der Deutschen in London sein werden. Das ist ganz in der Nähe der North Street. Jede Bombe, die auf dieses Gebiet hier fällt, wird höchstwahrscheinlich das Gaswerk treffen, undwenn das explodiert, verwandelt sich hier alles in einen Feuerball. Man rechnet auch damit, dass die Deutschen Giftgas benutzen. Es ist lebenswichtig, die Kinder rechtzeitig in Sicherheit zu bringen, Mrs. Pigeon, bevor sie bei lebendigem Leib verbrennen …«
»Oh, Mum!« Im Hintergrund erhob sich vielstimmiges Geheul und Mrs. Pigeon wandte sich um, um ihre Brut mit einem Stirnrunzeln zum Schweigen zu bringen.
Die Dame ergriff die Gelegenheit beim Schopf, und während Mrs. Pigeon ihr den Rücken zukehrte, gab sie Violet ein Bonbon, das sich Violet unverzüglich in den Mund schob. Die Leute gaben Violet oft Bonbons und Violet hatte gelernt, dass man am besten ein engelsgleiches Lächeln aufsetzte, wenn man noch mehr haben wollte. »Was für ein nettes kleines Mädchen! Und ein kleines Mädchen mit so hübschen blauen Augen ist doch sicher ein sehr gutes kleines Mädchen. Wie heißt du, Liebes? Kannst du mir deinen Namen sagen?« Die Dame streckte ihr ein weiteres Bonbon entgegen.
Violet nahm es, stopfte es sich ebenfalls in den Mund und setzte ein seliges Lächeln auf. »Vi’let.«
Die Dame machte sich rasch einen Vermerk auf ihrem Klemmbrett. »Und weißt du auch, wie alt du bist, Violet?«
Violet steckte sich einen schmuddeligen Finger in den Mund, um die Bonbons hin- und herzuschieben, und schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich drei, notierte die Dame. »Hast du noch Geschwister, Violet?«
Violet nickte. »Kannst du mir sagen, wie sie heißen, Schätzchen? Ich bleibe einfach hier stehen und schreibe die Namen auf.« Mrs. Pigeon drehte sich mit finsterer Miene um. Die Kinder stießen sich gegenseitig an. Sie warteten gespannt, was passieren würde.
Violet nahm ihren nassen Finger aus dem Mund und vertraute der Dame an: »Elsie kocht grad ihre Sachen, fürs Mittagessen. Mum sagt, zu verkaufen hat sie nichts mehr.«
Mrs. Pigeon seufzte. Sie gab sich geschlagen. Sie stellte Violet auf den Boden und ohne auch nur einen Zentimeter von der Tür zurückzuweichen, begann sie, die Namen und das Alter ihrerKinder aufzuzählen. »Da ist mein Ältester, Bert, der’s siebzehn, und sein Bruder, Terence, der’s sechzehn. Haben Arbeit, unten am Hafen, wie ihr Dad, bevor dass er seinen Unfall hatte. Haben Glück gehabt, die zwei, wo Arbeit so knapp ist heutzutage. Meinem Mann sein Bein ist unter ’ne Ladung gekommen und nie wieder richtig geheilt, da hatt ich ordentlich zu tun mit den ganzen Kindern, bis dass die zwei Arbeit gekriegt haben. Aber’s sind gute Jungs, ordentlich, bringen ihr Geld nach Haus. Ohne ihren Lohn geht’s nicht. Unsre Elsie da ist fünfzehn, ist fertig mit der Schule und alles. Geht bald arbeiten, mein Mann, der hat ihr ’nen Platz in der Klebstofffabrik besorgt. Fängt nächste Woche an. Können ihren Lohn auch gut brauchen, brauchen
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