Fuenf Frauen, der Krieg und die Liebe
sah von einer Frau zur anderen und vor Angst wurde ihre Stimme lauter. »Sehen Sie, ich habe es Papa versprochen – es war das Letzte, was ich zu ihm gesagt habe! Bruno und ich mussten fliehen und im Boot war keinPlatz für die Zwillinge. Er sagte, ich sollte als Erste gehen, und ich musste ihm versprechen, mich in England um die Kleinen zu kümmern. Nun ist es meine Pflicht, sie zu finden. Nach der Geburt des Babys war ich so krank, dass ich … viele Dinge vergessen habe«, gestand Tanni schuldbewusst. »Es war meine Schuld, wenn mir niemand sagen konnte, dass die Mädchen angekommen waren. Es muss einen Brief oder einen Anruf gegeben haben, aber ich war im Bett und zu müde, um aufzustehen, und da haben sie wahrscheinlich gedacht, ich würde nicht dort wohnen – aber nun geht es mir wieder gut und ich
muss
herausfinden, wo sie sind. Wir sollten alle nach Oxford ziehen, wenn meine Eltern kommen – vielleicht konnten sie uns in London nicht finden und sind nach Oxford gefahren, um uns dort zu suchen.« Tränen stiegen ihr in die Augen. »Meine Schuld …« Ihre Unterlippe zitterte und die Tränen liefen ihr übers Gesicht.
Die älteren Frauen schnalzten missbilligend mit der Zunge. Das arme Mädchen sah schrecklich aus – solch dunkle Ränder unter den Augen und so dünn, dass das Kleid regelrecht an ihr herunterhing. Tante Berthe stand auf und legte den Arm um Tannis Schultern. »Natürlich ist es nicht deine Schuld, Tanni«, sagte sie tröstend. »Die Zeit nach der Geburt eines Babys kann sehr schwer sein.« Die anderen nickten und murmelten zustimmend. »Geh mit Johnny nach Hause, meine Liebe. Wir werden versuchen, deine Familie zu finden. Wenn deine Schwestern tatsächlich bei einem Kindertransport dabei waren, müssten wir ihre Spur verfolgen können und herausfinden, wo sie sind.«
»Und wenn nicht? So viele Kinder, so viele …«, sagte die Frau, die Rachel hieß, und verbarg ihren Kopf in den Händen.
»Pst«, murmelte eine andere. »Das arme Mädchen ist schon genug durcheinander.«
»Und Mutti, Papa und Frau Zayman?«
Wieder trafen sich die Blicke der Frauen. »Wir fangen mit dem Kindertransport an – seine Spur ist einfacher zu verfolgen –, aber wir tun, was wir können, um deine Eltern und Brunos Mutter zu finden«, sagte Tante Berthe und tätschelte ihr begütigend dieHand. »Und, Tanni, mein Mann sagt, es ist wichtig, dass du außerhalb dieses Hauses nicht über irgendetwas sprichst, was wir hier gesagt haben. Kein einziges Wort. Wenn wir den Juden in anderen Ländern helfen wollen, müssen wir vorsichtig sein. Die Engländer …«
»Die Engländer sind genauso schlimm wie die Deutschen!«, unterbrach Rachel sie wütend. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie vorsichtig wir sein müssen, um nicht die Aufmerksamkeit der Behörden auf uns zu lenken. Jedes unserer Mitglieder hat unterschiedliche Informationen im Kopf. Niemand weiß alles. Wenn also eine von uns interniert oder befragt wird, kann sie nicht die Arbeit des ganzen Komitees gefährden.«
»Pst, Rachel, das reicht! Aber, Tanni, denk daran, nicht Deutsch zu sprechen, auch nicht mit Bruno. Sie hören überall zu und wenn es Krieg gibt zwischen England und Deutschland, werden sie Leute internieren, die sie für feindliche Ausländer halten.«
»Internieren?«, fragte Tanni. »Was heißt das?«
»In einem Lager gefangen halten, wie in einem Gefängnis.«
Die Erleichterung darüber, dass man ihr helfen würde, und die Hoffnung, ihre Familie bald wiederzusehen, wurden nun von neuen Sorgen verdrängt. Müde und vor allem darauf bedacht, Johnny nach Hause zu bringen und ihn zu stillen, stand Tanni auf, dankte Tante Berthe und verabschiedete sich von den Frauen. Sie ging so schnell sie konnte nach Hause. Johnny schrie die meiste Zeit, er fühlte sich schwer an und ihre Arme schmerzten. Was wäre, wenn man sie in eines dieser Lager stecken würde? Würden sie ihr Johnny wegnehmen? Sie drückte ihn an sich, sie konnte diese Vorstellung nicht ertragen.
Als sie das Haus betrat, schlug ihr der Geruch von altem heißem Fett entgegen. Ihr drehte sich fast der Magen um. In dem vollgestellten Flur vertrat ihr die Pensionswirtin den Weg »Da ist eine Dame, die mit Ihnen reden will. Sie ist im Wohnzimmer.«
Tanni ging rasch in den düsteren kleinen Raum. Die vertraute Gestalt einer Frau in einem eleganten Kostüm und Hut stand auf und Tannis Herz machte einen Satz. Plötzlich war alles wieder gut.»Oh, Mutti, ich wusste doch, dass
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