Fuenf Frauen, der Krieg und die Liebe
beredtes Schweigen. Alice blickte von ihrer Flickarbeit auf und wechselte schnell das Thema. »Die drei Kinder, die aus London hierher evakuiert worden sind, haben sich an ihrem ersten Tag in der Schule gut eingefügt, wenn man bedenkt, was sie Schreckliches erlebt haben. Sie heißen Tommy und Maude und Kipper Johnson. Sie sind ausgebombt, haben alles verloren, und Penelope Fairfax meinte, sie hätten dringendeine Unterbringungsmöglichkeit benötigt, und so hatte sie das Gefühl, sie müsste …«
»Sie in ihrem eigenen Haus unterbringen, wie ich gehört habe«, ergänzte Mrs. Osbourne. »Wo nur dieses amerikanische Flittchen ist, um sich um sie zu kümmern. Was hat sich Penelope nur dabei gedacht!«
»Mummy, bitte!« Alice schnitt ihren Faden mit einer heftigen Bewegung ab. »Penelope hat zu viel zu tun, um sich um das zu kümmern, was in Crowmarsh Priors vor sich geht. Die Frauen vom
Women’s Voluntary Service
sind Tag und Nacht unterwegs. So viele Leute sind ausgebombt, sie haben kein Zuhause mehr und nutzen die U-Bahnhöfe als Unterschlupf. Es klingt aussichtslos, dort für ein bisschen Ordnung zu sorgen. All diese armen Leute! Sie haben Angst, sie haben Hunger und sie machen sich Sorgen, was sie vorfinden, wenn die Entwarnung kommt. Mütter verlieren ihre Kinder aus den Augen und geraten in Panik, Männer prügeln sich, wenn sie betrunken sind, und Penelope sagt, als Toilette dient meist nur ein Eimer hinter einem aufgespannten Laken – und manchmal gibt es noch nicht einmal das. Und eines Nachts hat eine Frau während eines Luftangriffs ein Baby zur Welt gebracht. Doch natürlich macht Penelope einfach das, was getan werden muss, und
beklagt sich nicht
!« Alice biss sich auf die Lippen. Als sie weitersprach, versuchte sie fröhlich zu klingen, aber es fiel ihr schwer. »Und wir sitzen hier, gesund und munter, Mummy. Keine Brände, keine Giftgasangriffe und bis jetzt auch noch keine Bomben. Wir können uns nicht beklagen.«
Ein paar selige Minuten lang herrschte Schweigen. Alice nähte weiter. Sie war erschöpft.
Schließlich räusperte sich ihre Mutter und seufzte laut. »Die Teezeit ist schon vorbei. Wir hätten die Thermoskanne mit herunternehmen sollen. Warum vergisst du das bloß immer, Alice? Ich bin die Letzte, die sich beklagen würde, aber …«
»Hier, nimm ein Bonbon, Mummy.« Für solche Notfälle hatte Alice einen Vorrat an Süßigkeiten parat.
Der Boden unter dem Keller vibrierte. Heute Abend kriegt die Küste auch eine Menge ab, nicht nur London, dachte Alice. Waswar mit denen, die draußen auf dem Meer in Gefahr waren? Sie hatten keinen Schutzraum im Keller oder einen U-Bahnhof, nur die wogende, eisige See. Hatte Richard Angst?
»Ich werde nie, niemals begreifen, warum Richard dich hat sitzenlassen, Alice. Ich weiß nicht, was dein Vater dazu sagen würde, wenn er noch lebte. Wenn Richard dich geheiratet hätte, so wie er es hätte tun sollen, dann würden wir jetzt im Haus der Fairfax’ leben und nicht diese schreckliche Amerikanerin und diese unbeholfene Zigeunerin mit ihrem Balg«, sagte ihre Mutter.
»Ich weiß nicht, wie oft ich dir das schon gesagt habe, Mummy. Tanni ist keine Zigeunerin, sie ist Jüdin. Das ist ganz und gar nicht dasselbe. Sie ist mit einem sehr jungen Professor verheiratet, der sich freiwillig als Übersetzer beim Kriegsministerium gemeldet hat, also brauchen sie und ihr Baby irgendwo einen Ort, wo sie wohnen können. Manchmal klingst du wie Lady Marchmont. Es ist unsere Pflicht als Christen, sie und ihr Kind willkommen zu heißen. Und im Übrigen kümmert sie sich sehr gewissenhaft um den Kleinen.« Alice stach ihre Nadel so heftig in die Garnrolle, dass sie zerbrach. »So, bitte sehr. Ich habe dein Nachthemd repariert, es ist so gut wie neu«, sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen. »Das kannst du noch eine Weile tragen, neue Sachen sind so schwer zu bekommen.«
»Ich nehme an, ich habe gar keine andere Wahl, als mich damit abzufinden, oder? Schließlich muss ich mich auch mit diesem schrecklichen kleinen Cottage begnügen? Wo dein Vater unter der Erde ist und Richard uns so sehr enttäuscht hat?«
Alice schloss die Augen und sandte ein stummes Stoßgebet gen Himmel.
Bitte, Gott, lass entweder bald die Entwarnung kommen oder schick eine Bombe auf dieses Haus, jetzt, sofort, damit dieses Elend ein Ende hat.
12
London,
Februar 1941
Admiral Tudor Falconleigh legte den neuesten Geheimdienstbericht aus der Hand und schob seinen Stuhl von seinem
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