Fuenf Frauen, der Krieg und die Liebe
Kopf gezogen, doch er hatte keine Haare mehr, sie waren ihm von der blutenden Kopfhaut gebrannt. Während er sich Stück für Stück durch die mörderische Hitze und den Qualm vorarbeitete, konnte Oliver sehen, wie sich der Brustkorb des Mannes heftig hob und senkte, als er nach Luft rang. Blut bedeckte das rohe Fleisch auf seinem Kopf. Zwei Stunden waren vergangen, seit das Flugzeug zerschellt war. Der Mann drehte den Kopf in Olivers Richtung. Wo seine Nase gewesen war, klaffte nun ein Loch. Oliver fragte sich, ob er wohl die ganze Zeit bei Bewusstsein gewesen war.
Als er den Mann betrachtete, der da vor ihm auf dem Boden lag, schmolzen jegliche Rachegelüste dahin. Stattdessen breiteten sich in seinem Innern Wut und Verzweiflung darüber aus, dass Menschen sich gegenseitig so viel Leid zufügten. Er wünschte, er hätte daran gedacht, Wasser mitzubringen. Er legte sein Gewehr ab und fiel neben dem Mann auf die Knie.
In der Ferne hörte er den Drei-Uhr-siebenundvierzig-Zug pfeifen, der den Bahnhof verließ, ein Teil einer anderen Welt. Dann war außer dem Knistern der Flammen kein weiteres Geräusch zu hören.
Der Deutsche bewegte sich. Er öffnete ein blaues Auge. Auch seine Augenbrauen und Wimpern waren versengt. »Wasser«, stöhnte er. Oliver suchte verzweifelt nach den deutschen Sprachkenntnissen, die er sich an der Universität angeeignet hatte – erhatte sogar Goethe gelesen. Der Deutsche versuchte krächzend, ein weiteres Wort hervorzubringen. Oliver schnappte »Frau« auf. Der Mann fingerte hilflos an seiner Brusttasche herum. »Bitte«, flüsterte er. Oliver ergriff sanft seine Hand. Sie fühlte sich an, als wären die Knochen im Innern gebrochen. Da ihm nichts anderes einfiel, begann er ein Gebet für den Sterbenden zu sprechen.
»Bitte«, flüsterte der Mann wieder und sah ihn mit seinem blauen Auge unverwandt an. »Foto.« Dabei führte er seine und Olivers Hand zu seiner Tasche. Endlich verstand Oliver. Frau. Er unterbrach sein Gebet, griff in die Tasche des Mannes und zog einen Schnappschuss hervor, der eine hübsche junge Frau mit einem Kranz aus blonden Zöpfen auf dem Kopf zeigte. Sie saß auf einer Decke und hielt ein Kind im Arm. Es sah aus, als wären sie in einem Garten oder Park. Das kleine Mädchen lachte und die Frau schaute lächelnd auf es herab. Oliver versuchte, die Finger des Mannes um das Foto zu legen, doch sie gehorchten nicht, und so schob er es zwischen die Finger des Mannes und hielt es selbst fest.
»Christina«, flüsterte der Mann mit rauer Stimme, »liebe Frau.«
Oliver sah Blut aus seinem Mundwinkel tropfen. Dann durchfuhr ihn ein Schaudern und er war tot.
Oliver fühlte sich unsäglich müde. In der letzten Zeit hatte er zu viele Beerdigungen abgehalten. Vor ein paar Tagen musste er zwei Brüder begraben, die gestorben waren, als ihre Mechanikerhütte auf dem Flugplatz unmittelbar getroffen wurde. Die Familie war außer sich vor Trauer und die Tochter eines Bauern aus der Umgebung hatte in einer der hinteren Kirchenbänke neben ihrer Mutter gesessen und hemmungslos geweint. Sie war mit einem der Jungen verlobt und erwartete ein Kind von ihm. Die Dörfler hatten sie als sittenloses Geschöpf verdammt und ihr und ihrer Familie die kalte Schulter gezeigt.
Er wollte Gott wütend zur Rede stellen. Was meinst du, was ich tun soll im Angesicht von all diesem Morden und all dieser Verzweiflung unter den Menschen? Ich habe zwei Jungen aus dem Dorf beerdigt, sie wurden von anderen jungen Männern getötet,und ich habe sie auf dem Friedhof neben die Männer aus ihrer Familie gelegt, die im Weltkrieg gefallen sind und deren Namen auf einer Gedenktafel in der Kirche stehen. Nun werden wir diese Männer beerdigen und irgendwo in Deutschland werden Familien weinen und auf anderen Ehrenmalen werden zwei weitere Namen auftauchen. In ganz Europa bringen sich die Leute gegenseitig um, Mädchen beweinen ihre ungeborenen vaterlosen Babys und gottesfürchtige Leute lehnen das Geschenk eines neuen Lebens blind ab. Und irgendwann wird von der Zivilisation nichts mehr übrig sein, außer Namen auf Grabsteinen. Warum?
Als er über die Szene nachdachte, die sich ihm darbot und die sich tagein, tagaus auf den Schlachtfeldern von Dünkirchen, in Polen, Belgien, Frankreich und überall sonst wiederholte, verspürte Oliver den überwältigenden Drang, sich neben den toten Mann zu legen und zu schlafen.
Ein Donnerschlag riss ihn aus seinen Gedanken. Er blickte auf und sah Albert und Hugo auf
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