Fünf Kopeken
erlaubt sich nicht, stehen zu bleiben, läuft immer weiter, am zweiten Stock vorbei, in den ersten, wird schneller und noch schneller. Nur ihre Augen kommen nicht mit. Immer wieder huschen sie nach oben. Ihr Blick klettert die Spirale hinauf, in der sich das Treppengeländer in die Höhe schraubt, klammert sich am höchsten Punkt fest, bis ihre Füße endlich dem Zug nicht standhalten können. Wehrlos lassen sie sich zurückschleifen, stolpern die Stufen, die sie gerade erst hinabgelaufen sind, wieder nach oben, an ihrer Wohnungstür vorbei. Die Schnalle an der Tasche meiner Mutter klacktklacktklackt bei jedem Schritt gegen ihre Mantelknöpfe. Sie drückt sie an sich, presst den Arm darum, als versuche sie, ein schreiendes Baby zu beruhigen. Erst als die Treppe umknickt, hält sie an und lässt sich gegen die Wand sinken.
Sie ringt nach Luft, legt die Hand an den Hals. Das Rasen ihres Atems mischt sich mit Arnos Stimme, der jetzt so laut singt, dass man es bis hier oben hören kann. Sie presst die Finger um den Hals, setzt endlich einen Fuß auf die Delle, die sich in der Mitte der Stufe vor ihr wie ein Flussbett dunkel abzeichnet. Das morsche Holz heult auf. Sie greift nach dem Geländer, versucht ihr Gewicht so gut wie möglich auf den Arm zu verlagern, ist nur noch zwei, vielleicht drei Meter vom Ziel entfernt, als ihr einfällt, dass jemand von unten ihre Hände sehen könnte. Sie lässt erschrocken los, fällt nach vorne. Ihr Knie stößt gegen etwas Spitzes. Sie beißt sich auf die Lippen, um keinen Ton zu machen, während sie zu den beiden Türen linst, die linke wie ihre aus Holz, nur dass diese nicht weiß, sondern vom unzähligen Überstreichen in allen möglichen Brauntönen gescheckt ist; die andere aus Metall, ohne eine Klingel oder auch nur eine Klinke, eher wie die Tür eines Tresors als die einer Wohnung.
Ihre Finger bewegen sich hin und her, während sie überlegt, auf welcher Seite er wohnt, wenn ich aus meinem Fenster schaue, liegt sein Fenster links von mir, die Treppe geht rechts hoch, knickt dann um. Sie schließt die Augen, biegt den Oberkörper von der Wand zum Geländer, versucht logisch zu denken. Aber ihr Verstand hat wahrscheinlich auch keine Lust mehr, jedes Mal zu Diensten zu stehen, wenn ihr danach ist, nur um sich im nächsten Moment wieder wie Dreck behandeln zu lassen.
Sie drückt das Knie auf die nächste Stufe, schiebt sich noch ein Stückchen weiter nach oben, sodass sie das Tonschild neben der linken Tür lesen kann. »Willkommen« steht in kindlichen Schnörkelbuchstaben darauf, daneben ist eine Blume eingeritzt. Sie schaut nach rechts, aber das einzige Anzeichen, dass hinter der Metalltür überhaupt jemand lebt, ist ein gelber Abholzettel an der Wand, von der sich die Tapete rollt.
Ihr angewinkeltes Bein beginnt zu zittern. Sie betrachtet das schmutzige dunkelbraune Holz darunter, folgt den Ritzen, die sich tief ins Innere fressen. Dagegen sieht ihr Bein darauf seltsam glatt und neu aus. Ihr Blick gleitet die gespannte Haut hinauf, streicht über die Nylonstrumpfhose.
Die Schritte im Inneren kommen so plötzlich näher, dass sie ein paar Stufen rückwärts nach hinten torkelt, bevor sie ihr Gleichgewicht wiederfindet und losläuft. Die Tasche schlägt ihr zwischen die Beine. »Listening to wind«, ruft es ihr nach, während sie die Treppe hinabfliegt. Das Geländer schreit auf, so fest zerrt sie an der Stange. Sie rennt durch den Innenhof, ins Vorderhaus, reißt die Haustür auf, stürzt auf den Gehsteig. Sie rennt die Straße entlang, über die Kreuzung, sieht gerade noch rechtzeitig den Graben, der sich vor ihr auftut und da gestern noch nicht war. Sie rennt durch den Schlauch, der statt des Gehwegs über die Kabel und Rohre hinweg führt, stolpert auf den schwankenden Brettern, auf den staubigen Gehweg zurück, in den U-Bahnhof hinein. Sie hetzt die Stufen zu den Gleisen hinunter, läuft den Bahnsteig entlang, setzt sich auf eine der Bänke. Schlägt die Beine übereinander. Stellt die Tasche darauf.
Sie steht wieder auf. Schaut unruhig von rechts nach links, als befürchte sie, jemand könne ihr gefolgt sein.
Jemand könne ihr gefolgt sein?
Du bist es doch, die ihn verfolgt!
Sie denkt an die Schäfer Marie mit ihrem Kissen im Fenster und ihren hinter vorgehaltener Hand geraunten Informationen. Aber selbst die hätte es nicht so weit getrieben, jemandem bis vor die Haustür nachzuspionieren.
Sie fährt in die Bibliothek. Will lernen. Lernt aber natürlich nichts,
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