Fünf Kopeken
während sie den Ausgang sucht, die Hand aus dem Ärmel wringt, plötzlich die Finger meiner Großmutter spürt, die ihr mit einem Ruck den Stoff von den Schultern reißen.
Wie durch eine Plastiktüte sieht sie den Raum vor sich, das Bett, dessen Konturen ineinanderlaufen.
»Die Wäsche auch, das ist doch alles völlig durchnässt.«
Meine Mutter streift das Unterhemd ab, klackt den Büstenhalter auf und steigt aus der Unterhose, wartet frierend, bis meine Großmutter ihr endlich etwas Weiches reicht. Sie muss den Stoff direkt vor die Augen halten, bevor sie den riesigen Feinrippschlüpfer erkennt.
»Der ist doch viel zu groß.«
»Ja soll ich mir was aus den Rippen schneiden?«, ruft meine Großmutter, »wenn du nicht darauf bestanden hättest, deine ganzen Sachen in deine Wohnung zu schaffen, hätte ich jetzt was Passendes!« Das »deine« vor Wohnung spricht sie aus, als sei es etwas Anstößiges.
Die Schranktür ächzt. Verschwommen sieht meine Mutter, wie sich die Hand meiner Großmutter zur Brust hebt und hin und her fährt.
Sie steigt in das Ungetüm einer Unterhose, knotet den überschüssigen Stoff an den Seiten zusammen, legt einen Arm vor die Brust.
»Mein Gott, dir wird schon keiner was abkucken!«, kommt es dumpf aus dem Nebel. Ein zweites Stück Stoff landet vor meiner Mutter, das sie bei näherer Betrachtung als genauso überdimensionierte Bluse identifiziert. Wenigstens die Hose, die meine Großmutter zu Tage fördert, stammt aus den magreren Nachkriegstagen meines Großvaters, sodass sie zumindest sporadischen Hautkontakt mit dem Körper meiner Mutter aufnimmt.
Sie tastet auf dem Bett herum, findet ihre Brille.
Das aufgeschwemmte Gesicht meiner Großmutter wird scharf, die Stirn, die sich in Falten legt. »Warum trägst du denn eigentlich nicht deine Kontaktlinsen?«
Meine Mutter stülpt den Hosenbund um, bis sich eine dicke Wurst in der Taille staut. »Die reiben mir in den Augen.«
»Dagegen gibt’s doch Tropfen.«
»Muss ja nicht sein, wenn ich nur in die Bibliothek geh.«
»Trotzdem. Schad’t doch nicht.«
»Das ist keine Modenschau, ich geh dahin, um zu lernen.«
»Ja, ja«, ruft meine Großmutter, und: »Ich wasch dir die Sachen, dann kannst du sie beim nächsten Mal wieder mitnehmen.«
»Danke«, murmelt meine Mutter.
»Es sei denn, du willst sie hier lassen. Falls du mal wieder was brauchst.«
»Mama, ich muss jetzt wirklich anfangen«, sagt meine Mutter und läuft ins Arbeitszimmer, wo die Mappen tatsächlich schon auf dem Schreibtisch bereitliegen.
Sie lässt sich auf den Stuhl nieder, zieht den Stapel zu sich heran. Schlägt eine Mappe auf.
Sie lässt die Schultern kreisen, beugt sich nach vorne.
Sie steht auf. Schließt die Tür. Klatscht sich auf die Wangen.
Sie fährt über die Klarsichthülle und beginnt zu lesen, sehr geehrte Damen und Herren, hiermit bewerbe ich mich auf die Stelle in Ihrem Wahrenhaus …
Sie wirft die Mappe neben sich auf den Boden. Zieht die nächste zu sich heran, das handschriftliche! Anschreiben heraus. Nur aus Neugier überfliegt sie ein paar Zeilen, bis sie beim Anblick des gemalten Herzchens vor »-lichen Grüßen« selbst die verliert.
Sie nimmt die dritte Mappe in die Hand, freut sich schon auf den Unsinn, der sie wohl hier erwartet. Aber der Anfang ist überraschend erträglich, mit Begeisterung habe ich Ihre Ausschreibung, während meiner Ausbildung zur Kauffrau, daraufhin hatte ich die Gelegenheit, Erfahrungen im Einzelhandel, Hochachtungsvoll, Anlagen, 1., 2., 3.
Widerstrebend blättert meine Mutter zum Lebenslauf weiter, lässt den Zeigefinger den Werdegang hinabwandern, Grundschule, Polytechnische Oberschule, Erweiterte Oberschule. Fächer gut, Noten gut, nicht spektakulär, aber so rundum durchschnittlich in Ordnung, dass es nichts zu beanstanden gibt. Und noch weniger, woran sich meine Mutter hätte festhalten können. Ohne auch nur von einem kleinen Tippfehler abgebremst zu werden, gleitet ihr Blick über die Seite hinweg, verliert sich im Leeren, findet ganz von alleine zu den gelben Augen zurück, die sie so anstarren, dass meiner Mutter vor Schreck die Mappe aus der Hand fällt.
Sie schüttelt den Kopf, grapscht nach dem Stapel, bringt sich hinter einer neuen Klarsichthülle in Sicherheit. Doch zu allem Überfluss liest auch die sich gar nicht so schlecht. Ein Komma ist falsch gesetzt, aber das ist nicht genug, um das Kribbeln aufzuhalten, das an ihren Armen entlangkriecht. Ihr Finger in der Zeile beginnt zu
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