Fünf Kopeken
außer was es heißt, lernen zu wollen und es nicht zu können. Sie drückt die Nase in die Bücher. Starrt auf die Seiten. Und sieht doch nur sein Grinsen. Sie fährt mit dem Finger die Zeilen entlang, wie eine Erstklässlerin, natürlich nicht wie sie als Erstklässlerin, wie eine ganz normale Erstklässlerin. Versucht zu verstehen, was da steht. Und versteht nichts, am wenigsten sich selbst. Sie wartet darauf, dass der Raum endlich seine Wirkung tut, der Geruch der Bücher, die unterdrückten Stimmen, die typischen, gedämpften Geräusche einer Bibliothek, die sie sonst noch immer in diesen magischen Zustand hundertprozentiger Aufmerksamkeit versetzt haben, in dem sie selbst die ödeste Lektüre mühelos weglesen konnte. Aber jetzt kommt sie nicht mal über den ersten Absatz hinaus. Sie ärgert sich über die anderen Studenten, von denen hier, in dieser Scheißstadt, erst recht an einem Sonntag, jetzt schon Sonntagmittag oder Sonntagabend – oder vielleicht nicht mal mehr das, so zäh zieht sich der Tag dahin, dass sie sich im Rückblick nicht mal mehr sicher ist, ob es tatsächlich nur einer war, ob seit diesem Morgen mit Arno nicht vielleicht doch schon Wochen vergangen sind – , ärgert sich also über die Studenten, von denen hier und jetzt natürlich keiner auf die Idee kommt, auch nur ansatzweise etwas zu dämpfen oder zu senken oder sonst wie vorsichtig, rücksichtsvoll, leise zu sein. Sodass sie sich einredet, es läge vielleicht nur am Lärm, dass sie nicht vorankommt. Oder an der stickigen Luft. Oder am Hunger. Sie müsse nur mal raus, nur mal ein paar Schritte gehen, nur mal was essen, der ganze Stuss, den jeder Konzentrationsmangelerprobte sofort als Selbstbetrug erkennen würde. Aber meiner armen, bis dato völlig verlockungsimmunen, zerstreuungsresistenten, unablässig, unablenkbar Nächte durchbüffelnden, Wie-du-bist-müde?-Bist-du-fertig?-Na-dann-kannst-du-dir-die-Frage-ja-wohl-selbst-beantworten!-Mutter fehlt eben auch hier die Erfahrung. Sie hat keine Abwehrkräfte gegen die Ausflüchte, die sich als Vernunft tarnen, glaubt tatsächlich an die Reinheit ihrer Motive. Und so packt sie ihre Sachen zusammen und läuft zurück ins Freie.
Wo sich zu ihrem Leidwesen allerdings schon die ganze restliche Stadt versammelt hat. Vor der Uni, auf der Straße, soweit das Auge reicht: Menschen. Die meisten davon ein Eis im Gesicht, Letzteres gen Sonne gereckt, »als hätten sie zu Hause kein elektrisch Licht!« Der Himmel ist strahlend blau, als sei es plötzlich Frühling geworden, während meine Mutter in der Bibliothek war. Was sie ja andererseits vielleicht auch wochenlang war, »also, jetzt nicht am Stück, immer wieder halt, das ist doch jetzt auch egal.«
Sie sucht die Bänke am Straßenrand ab, die aber alle voll sind, die Cafés, die auch alle voll sind, überlegt sich schon, einfach nach Hause zu fahren und stattdessen am nächsten Morgen zu lernen, wenn sie noch früher aufstehen würde als sonst, könnte sie vielleicht, aber nein, das geht auch nicht, da hat sie ja schon meinem Großvater versprochen, die Bewerbungen für die neue Verkäuferin durchzusehen, was dann wohl bedeutet, dass tatsächlich bereits Wochen verstrichen sein müssen, denn wie sollten heute schon die Bewerbungen da sein, wenn der Verkäuferin gestern erst gekündigt wurde?
»Vielleicht ging es auch darum, Ersatz für eine andere Primel zu finden, die er vorher entlassen hat«, sagte meine Mutter ungeduldig, »der Opa hat ja gerne mal reinen Tisch gemacht.« Sagte: »Eigentlich gab es immer irgendwelche Löcher zu stopfen.« Endlich: »Mein Gott, halt dich doch nicht mit so einem Scheiß auf«, als sei ich es, die die Geschichte in die Länge zieht, »das ist über 20 Jahre her, da wird man doch mal das eine oder andere Detail vergessen dürfen!« Wichtig sei allein, dass es Bewerbungen gegeben habe, die durchgesehen werden mussten, und das von meiner Mutter und das so schnell wie möglich, am nächsten Morgen, noch vor der Uni, so hatte sie es meinem Großvater versprochen.
Sie macht wieder kehrt, will zurück in die Bibliothek.
Und läuft, als ihr auffällt, wie nah sie am Haus meiner Großeltern ist, stattdessen zu ihnen, weil sie sich die Bewerbungen ja genauso gleich vornehmen kann.
Wer weiß, wenn du erstmal wieder in den Arbeitsmodus zurückgefunden hast, klappt es vielleicht sogar wieder mit dem Lernen, denkt sie, während sie die Straße entlangeilt.
Die Vorstellung, den Eimer noch mal auszuleeren, von
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