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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Stricker
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gegessen hat. Wie bei einer Schlange zwängt sich Bissen für Bissen den Hals hinab. Die Brocken scheinen sich richtig nach außen zu beulen. Jedes Mal wenn er schluckt, steigen ihm kleine Spuckebläschen in die Mundwinkel. Sie sieht ihm zu, halb fasziniert, halb angeekelt, bis endlich ein zufriedenes Seufzen seinen Bauch hebt und er die Gabel sinken lässt.
    Meine Mutter steht auf, nimmt seinen leeren und ihren noch immer fast vollen Teller vom Tisch, geht zur Spüle.
    »Lass stehen, ich mach das später«, sagt er.
    »Später ist alles eingetrocknet«, sagt sie.
    »Dann kümmer ich mich gleich drum!« Er steht auf, greift an ihr vorbei ins Becken und nimmt ihr das Besteck aus der Hand. »Na los, mach, dass du hier rauskommst«, sagt er in gespieltem Ernst. Er stößt sie mit der Hüfte zur Seite, schiebt den Ellenbogen nach oben, um sie vom Waschbecken wegzuhalten, macht dann aber sicherheitshalber doch noch mal einen Kussmund, während sie widerwillig aus dem Zimmer geht.
    Sie läuft ins Badezimmer, zieht die Zahnbürste aus dem Glas, drückt einen Berg Paste darauf. Sie hält den Bürstenkopf unter den Wasserstrahl, steckt ihn sich in die Backe, schrubbt grob darin herum. Sie spuckt ins Becken. Gurgelt. Wischt sich den Mund ab. Zieht das Handtuch gerade. Sie reißt zum dritten Mal das Gummi vom Zopf, oder was auch immer das sein soll, was sie da mit ihren Haaren macht, kämmt die Strähnen mit den Fingern nach hinten, so straff, dass es sich anfühlt, als habe sie einen zu engen Hut auf, aber die Nervosität lässt sich nicht bändigen, wird nur noch größer, während sie das Bad verlässt und aufs Arbeitszimmer zugeht, in dem vielleicht schon, ob Arno so früh bereits daran gedacht hat?, tatsächlich, der Rollladen ist schon hochgezogen, die Sicht ist frei und damit auch die Versuchung wieder da. Meine Mutter muss alle Kraft zusammennehmen, um ihren Blick auf dem Boden festzuhalten. Sie zieht den Ordner vom Tisch, einen Block, das Mäppchen, packt alles in ihre Tasche, krampfhaft bemüht, dem Fenster den Rücken zuzuwenden, was natürlich auch nichts hilft. Was es natürlich nur noch schlimmer macht. Was sie natürlich nicht weiß, wie soll sie auch, sie weiß ja überhaupt nichts von diesen Dingen. Von der Macht, die Gedanken über den erlangen, der sie zu unterdrücken versucht. Von der Sehnsucht, die aus einem Zufall, einer Geste, im Grunde aus gar nichts erwachsen kann, die umso wildere Triebe schlägt, je dünner ihre Wurzeln sind, als wolle sie die Kläglichkeit des Ursprungs in der Krone wieder wettmachen. Davon, dass ein einziger unbedachter Moment genügt, um das Herz derart aus dem Takt zu bringen, dass es nicht mehr zurückfindet, vor allem ein so sperriger, unbeweglicher Fleischklumpen wie der ihre. Sie weiß es nicht, und so glaubt sie tatsächlich noch, sie könne die Oberhand gewinnen, sie brauche einfach ihre Tasche fertigpacken, die Schnalle zumachen und da rausspazieren. Glaubt, es sei genug, einen Schritt vor den anderen zu setzen, bis er irgendwann in der Ferne verschwindet.
    Und merkt dabei nicht, dass sie geradewegs auf ihn zuläuft.
    Erstmal stellt sich ihr aber wieder Arno in den Weg.
    »Du kannst doch auch hier lernen«, hört sie ihn im Flur, »ich versprech auch, mucksmäuschenstill zu sein.« Er kommt zur Tür herein, die nassen Arme vom Körper gespreizt.
    »Du weißt doch, dass ich hier nicht alle Bücher habe.« Sie hebt die Tasche vom Tisch. Dreht sich um. Ist schon fast an der Tür, als sie doch über die Schulter schaut, ganz kurz nur, hin her, so schnell, dass sie nicht mal die richtige Stelle findet, dass sie versehentlich in irgendein anderes Fenster kuckt, über was sie sich schon wieder aufregt. Was Arno ihr Gott sei Dank schon wieder falsch auslegt.
    »Ich weiß, ich weiß«, ruft er, »der Rauch steht bis hier. Keine Sorge, wenn du weg bist, lüfte ich durch.« Er drückt ihr einen Kuss auf die Lippen. Sein Atem riecht nach Wurst.
    Meine Mutter schiebt sich an ihm vorbei, läuft den Flur entlang, nimmt den Mantel vom Haken, dreht den Schlüssel im Schloss. Aus der Küche dröhnen die Scorpions.
    Sie schlüpft ins Treppenhaus, eine Hand schon im Mantel, die andere an der Klinke. »Ich dich auch«, hört sie meinen Vater rufen. Dann fällt die Tür ins Schloss.
    Sie steigt die Treppe hinab, fädelt den anderen Arm in den Ärmel, knöpft den Mantel zu. Ihre Finger haben Mühe, die passenden Löcher zu finden, so sehr werden die Schöße von ihren Knien aufgeworfen, aber sie

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