Fünf Kopeken
dass sie gegen Worte wie Sonderangebot oder Schnäppchen völlig machtlos sind. Im Grunde könnten wir ihnen auch einfach die Stoffbahnen hinlegen!« Der Tisch beginnt hin und her zu schaukeln.
»Dann wollen wir uns mal die Nachfolgerin ankucken«, sagt er plötzlich und schaut zu dem Stapel, auf dem gerade noch fünf oder sechs Mappen liegen. »Sind das die, die in Frage kommen?«
Meine Mutter folgt seinem Blick, schüttelt kaum merklich den Kopf.
»Na, dann zeig her.« Er lässt die Tischkanten los und streckt den Arm aus.
Meine Mutter schaut auf die Finger, die sich vor ihr ausstrecken, sieht den Ring, die zusammengequetschte Haut darüber. Sie zieht irgendeine Mappe aus dem Durcheinander neben sich und legt sie in die Hand.
»Na dann wollen wir mal«, sagt mein Großvater. Er klappt den Schutzumschlag auf und hält die Mappe nach oben. »Jaqueline«, liest er laut.
Sein Blick wandert die Seite hinab. Er blättert langsam weiter, schiebt die Zunge von innen an seiner Oberlippe entlang. »Na, ja, überwältigend ist das nicht, oder?«
Meine Mutter nickt.
Er drückt den Zeigefinger in sein Grübchen. »Man muss wohl nehmen, was man kriegen kann, was?«
Sie nickt wieder.
Mein Großvater schaut schräg nach oben. »Scha-kö-li-nö«, sagt er noch mal, als könne ihn der Klang versöhnen, rollt die Mappe wie einen Rohrstock zusammen.
Meine Mutter atmet tief ein. Sie spürt die Augen meines Großvaters auf sich liegen, sieht den Mappenstock, der sich in seiner Faust hin und her bewegt, endlich in die Höhe schießt und so fest auf die Tischplatte knallt, dass die Mappe in der Mitte einknickt. »Na gut, dann soll’s wohl die sein«, sagt er, »vorausgesetzt, du bist dir sicher, dass das die Richtige ist?«
Meine Mutter schaut auf. »Ja, die ist es«, sagt sie und nickt wieder.
Das ist das erste Mal, dass sie meinen Großvater anlügt.
Meine Großmutter kommt zurück ins Zimmer. »Und?«, ruft sie schon an der Türschwelle, »ist eine dabei?«
»Natürlich«, ruft mein Großvater, »und was für eine!«
»Gott sei Dank!«, ruft sie und lässt sich genauso dienstfertig wie zuvor die Mappe nach hinten reichen. »Was denn, aus Jena?«, stöhnt sie, noch ehe sie die erste Seite richtig gesehen hat, »da kam die Berenth doch auch her! Heijeijei, hoffentlich ist die nicht genauso deppert.«
»Woher denn«, ruft mein Großvater, »dann würden wir sie ja wohl kaum zum Vorstellungsgespräch einladen.«
Meine Mutter steht auf und zieht die Tasche vom Boden.
»Die Berenth hast du doch auch eingeladen! Und dann sogar eingestellt«, ruft meine Großmutter. »Wo willst du denn hin?«
»Nachhause«, sagt meine Mutter, fast tonlos, als sei sie im Kino und wolle die Darsteller auf der Leinwand nicht übertönen.
Mein Großvater reißt meiner Großmutter die Mappe aus der Hand. »Von wegen Berenth. Was Jena an berühmten Söhnen und Töchtern hervorgebracht hat, da können sich andere Städte mal umkucken. Hegel, Novalis, Goethe, Schiller!«
»Ich dachte der Schiller kommt aus Marbach«, ruft meine Großmutter. »Du hast doch gesagt, die Schneider-Oma sei extra zu seinem Geburtshaus geradelt!«
»Ich? Ich soll das gesagt haben? Niemals!«
»Ach, dann lüg jetzt ich wohl.«
Meine Mutter drückt sich an den beiden vorbei. »Ich muss gehen.«
Meine Großmutter kommt ihr nachgerannt. »Bleibst du nicht zum Essen?«
»Würd ich ja gerne, aber ich muss noch lernen.«
»Dann pack ich dir wenigstens was vom Kuchen ein.«
»Nicht nötig.«
»Vielleicht für den Arno?«
Mein Großvater tritt aus dem Arbeitszimmer. »Schau dir doch mal die Noten an! Eins, zwei, zwei«, er piekt mit dem Finger auf die Mappe wie ein Huhn in den Sand, auch wenn meine Großmutter von der Wohnungstür aus unmöglich etwas lesen kann, »eine mit solchen Noten ist doch nicht blöd!«
»Das sind doch Ostnoten«, schreit sie trotzdem, »die können doch sonst was bedeuten!«
»Hilde, diese negative Haltung geht mir allmählich wirklich sowas von auf den Senkel. Merkst du denn nicht, dass wir an einem Wendepunkt stehen?«
»Wieso denn schon wieder Wendepunkt? Es geht doch nur um eine Verkäuferin!«
»Warum regst du dich denn dann so auf?«
»Ich reg mich gar nicht auf!«
»Dann regst du halt mich auf!«
»Ich geh dann mal«, flüstert meine Mutter.
Meine Großmutter hält sie am Arm fest. »Wart noch kurz!«, ruft sie und läuft ins Schlafzimmer. Schubladen schrappen, die Schranktüren fliegen auf, dann kommt sie keuchend zurück und
Weitere Kostenlose Bücher