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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Stricker
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zum Ende der Karawane. Im Halbdunkel rutschen die Hinterköpfe vor meiner Mutter unruhig hin und her, als versuche jemand vergeblich, ein Puzzle zu legen.
    Vor ihr gehen zwei Mädchen und drücken sich eng aneinander. Ein Junge schließt sich ihnen an, auch wenn er wahrscheinlich nicht wirklich dazu gehört, aber je weiter sich der Trupp an der Schnauze der Bahn vorbeiarbeitet, desto langsamer werden die vorderen Reihen, sodass die hinteren zwangsläufig in sie hineingequetscht werden. Eines der Mädchen stellt sich auf die Zehenspitzen. »Und?«, flüstert das andere, aber da fällt ihr die erste schon in die Arme. Über das Gesicht, das an ihrer Schulter auftaucht, strömen Tränen.
    Meine Mutter wird gegen die Rücken gedrückt, die den Blick auf die Gleise verstellen. Alles was sie sehen kann ist ein Kerl mit Bomberjacke und Stiernacken, ganz am Rand des Lichtkegels. An einer Kette hält er eine Dogge oder einen Pit Bull oder so was, was solche Kerle eben haben, groß, breit, auch mit ziemlich viel Nacken und rappelkurzem Fell, durch das sich die Muskeln abzeichnen.
    Das Schreien schwillt an, ein schreckliches, markdurchdringendes Schreien.
    Die Kette um den Hals der Dogge spannt sich.
    Vor dem Restaurant auf der anderen Straßenseite glühen Wärmepilze. Kellner mit schwarzen Fliegen und weißen Hemden kommen heraus und schauen neugierig herüber. Ganz leise ist Musik zu hören.
    Meine Mutter versucht die Melodie zu erkennen, aber das Schreien fährt immer wieder dazwischen, als würde jemand falsch singen, dafür ohrenbetäubend laut.
    Ein paar der Passagiere beginnen zu tuscheln, andere weinen, drücken sich die Hand auf den Mund, als wollten sie vermeiden, die Hauptstimme mit ihrem Geheule zu übertönen.
    Die Dogge zieht wieder nach vorne, aber diesmal hält der Kerl sie nicht mehr fest. Die Kette gleitet aus seiner Hand und schleift hinter ihr her, während sie schnüffelnd auf die Gleise läuft.
    Das Gemurmel gibt die ersten Wortketten frei, man muss doch, hat denn schon, sollte nicht einer, wieso denn keiner. Eine junge Frau läuft auf die Gleise. »Einen Krankenwagen! Hat jemand einen Krankenwagen gerufen?«
    »Das Mädchen, das gestürzt ist«, hört meine Mutter jemanden rufen, »die war doch Ärztin!«
    »Ja, genau. Wo ist denn diese Ärztin?«, fragt es nur ein paar Meter von ihr entfernt.
    Meine Mutter duckt sich zur Seite. Aus den Augenwinkeln sieht sie den Mann, der sich suchend umblickt. Und dann auch den Fahrer, ganz vorne, die Mütze in der Hand.
    Jemand rennt über die Straße, auf das Restaurant zu.
    Meine Mutter schaut zu der Dogge, deren Kette wie eine Kinderrassel auf den Schienen klirrt. Sie sieht die Umstehenden, die wie gebannt geradeaus starren. Sie sieht ihre eigenen Arme, den Kratzer am Ellenbogen, aus dem es noch immer blutet, obwohl sie überhaupt nichts spürt, weder den Schmerz, noch ihre eigene Hand, die sich auf die Wunde legt.
    Sie setzt den Daumennagel neben der aufgeschürften Haut an und lässt ihn nach unten ratschen, betrachtet verwirrt die drei weißen Linien, die ihr Nagel hinterlassen hat. Wartet darauf, dass sie verblassen. Eine Minute. Zwei. Aber auch nach fünf heben sie sich noch deutlich vom Untergrund ab, wie Kreidestriche auf einer Schiefertafel.
    Auf dem Gehsteig sammeln sich Schaulustige.
    Sie streicht wieder über den Ellenbogen, jetzt schon richtig grob, presst Daumen und Zeigefinger um den Arm und drückt zu, bis die Fingerkuppen aneinanderstoßen. Die Haut staut sich unter dem Ring auf. Aber noch immer ist das Einzige, was sie spürt, die Unruhe darüber, noch immer nichts zu spüren.
    In der Ferne hört man ein Martinshorn.
    Sie lässt los, rubbelt über die tiefen Halbmonde, lässt die Hand auf ihre Brust gleiten, auf den Bauch, sucht durch die Bluse hindurch nach ihrem Magen.
    Wenn nur endlich das Schreien aufhören würde, denkt sie, während sie sich verzweifelt zu erinnern versucht, welche Stelle in ihrem Kopf bisher für das Fühlen verantwortlich war. Immer unruhiger streicht sie über die taube Haut, die Hüfte hinab, auf den Oberschenkel.
    Er berührt so plötzlich ihre Finger, dass sie vor Schreck zusammenfährt.
    Sie reißt den Arm weg, zieht die Hand zu sich nach oben. Betrachtet die Innenfläche, als erwarte sie, einen Abdruck darauf zu finden. Aber die Haut sieht aus wie immer. Höchstens vielleicht ein bisschen schmutziger nach dem Sturz.
    Sie macht eine Faust. Drückt den Daumen über die übrigen Finger. Lässt den Arm wieder sinken. Ganz

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