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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Stricker
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zittern. Sie schlägt sich wieder auf die Wangen, diesmal schon richtig fest, blättert weiter, Diplome, Urkunden, hangelt sich an irgendwelchen Kopien vorbei bis zum Abiturzeugnis, aber natürlich muss die blöde Kuh auch noch Russisch in der Schule gehabt haben.
    Und das war’s dann.
    Die Bilder schlagen über ihr zusammen, die Fliege in seiner Tasche, die Fingerspitzen auf dem Quittungsblock, dann die scheckige Holztür, ja, plötzlich ist sie sich ganz sicher, dass es diese Tür sein muss, hinter der er lebt. Sie sieht ihn im Rahmen stehen, sein Grinsen, das sich wieder in ihren Bauch wühlt.
    Die Tür fliegt auf. »Willst du vielleicht ein Stück Streuselkuchen?«
    Meine Mutter fährt sich übers Gesicht. »Ich hab keinen Hunger.«
    »Aber du musst doch was essen!«
    »Ich ess ja, nur nicht jetzt.«
    »Offensichtlich nicht genug. Kuck dich doch an!«
    »Das weiß ich doch«, antwortet meine Mutter, »tut mir leid«, und weil die Unterlippe meiner Großmutter schon bedrohlich nach vorne rutscht, auch noch: »Entschuldigung, ich hat ne schlimme Nacht.«
    »Ich auch!«, ruft meine Großmutter, »seit der Papa mit dieser Idee von der neuen Filiale angekommen ist, mach ich kein Auge zu. Ich hab sogar …«, aber die letzten Worte fallen einem neuerlichen Hustenanfall zum Opfer, für den es jetzt aber ja auch wirklich mal wieder Zeit ist, man hätte sonst ja fast vergessen können, dass sie noch immer sterbenskrank ist. Um Luft ringend greift sie in die Taschen des Kleiderzelts, wühlt zwischen den Gegenständen auf dem Tisch herum, aber der Inhalator ist unauffindbar. Dafür entdeckt sie ihre gesammelten Gebrechensvorräte wieder. Die alte Lunge. Die neuen Magenbeschwerden. Und der Rücken erst!
    Meine Mutter nickt und schüttelt den Kopf, lässt die Papierkanten in der Mappe wie ein Daumenkino durch ihre Finger laufen, bis meine Großmutter endlich, endlich geht.
    Und das Drama von vorne beginnt: Brille auf, Brille ab, Haare auf, Haare zu. Rumgezappel. Kopfgeschüttel. Die Bewerbungsmappen landen eine nach der anderen auf dem Boden, obwohl meine Mutter kaum zu sagen wüsste, was sie da eigentlich liest. Sie betrachtet irgendein Passfoto, den bläulichen Hintergrund, merkt plötzlich, dass sie die Anschrift und Telefonnummer der Bewerberin so oft gelesen hat, dass sie sie schon auswendig kennt, als sie die Wohnungstür hört.
    »Da bist du ja endlich!«, ruft meine Großmutter und beginnt aufgeregt von meiner Mutter zu erzählen und den Flecken und dem Nachbarsjungen, »der wirklich immer schlimmer wird!« Ein Paar donnernder Schritte kommt den Flur entlang. Der Blick meiner Mutter fährt panisch von rechts nach links. Sie rutscht vom Stuhl, sammelt die verstreuten Mappen auf und wirft sie auf den Tisch.
    »Und? Welches hoffnungsvolle Talent wird uns in Zukunft unterstützen?«, bellt mein Großvater und stürmt herein. Unter der Jacke blitzt seine Freizeitkleidung hervor, ein anthrazitfarbener Anzug statt des üblichen schwarzen. Dazu trägt er ein winziges Hütchen und ein riesiges Strahlen. »Bei trockenem Wetter macht der Bauplatz gleich noch mehr her!« Ohne sich umzudrehen lässt er die Jacke in die ausgestreckten Arme meiner Großmutter gleiten, die hinter ihm hergeeilt kommt. »Von der Schnellstraße aus siehste das Gelände schon aus drei Kilometern Entfernung. Rundum gähnende Leere, nicht mal ne Raststätte haben sie da. Die Leut müssen allein schon zum Pinkeln bei uns rausfahren!«
    Er zieht sein Hütchen ab und hält es hinter sich, wo es ebenfalls von meiner Großmutter in Empfang genommen wird, während er mit eiferrotem Gesicht von seinem neusten Plan berichtet, statt einer weiteren Filiale eine Art Resterampe auf dem Grundstück hochzuziehen. »Alles, was am Ende der Saison liegen bleibt, karren wir da hin, kleben ein rotes Ermäßigungsschildchen drauf und schon verkauft sich das Zeug wie von selbst.« Er federt auf den Zehenspitzen und reißt die Brauen nach oben. »Was meinste?«
    Meine Mutter schluckt. »Klingt gut.«
    Mein Großvater runzelt die Stirn. »Ist das alles?«
    Meine Mutter schiebt unruhig die Mappen vor sich zusammen. »Ich würd’s vielleicht nicht grad Resterampe nennen. Wie wär’s mit Outlet ?«
    »Meine Gene!«, ruft mein Großvater und klopft in Ermangelung eines greifbaren Oberschenkels auf den Tisch. Er umfasst die Kanten wie ein Pfarrer die Kanzel und beginnt die deutsche Pfennigfuchserei zu preisen, »gerade im Osten. Die haben doch so lange nur Einheitspreise gekannt,

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