Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Stricker
Vom Netzwerk:
Köpfe über ihr zusammen, schlingen die Äste um ihre Schultern wie Lilanen. Sie dreht sich nach rechts und links, wirft panisch den Kopf herum, entdeckt endlich die roten Flecken auf dem Gehweg. Ein Luftzug fegt über sie hinweg. Die Bahn rast auf sie zu. Sie springt zur Seite, knallt gegen die Frontscheibe, und dann sieht sie die Nachttischkante, die sich in ihre Stirn bohrt, spürt ihre Glieder blank und ungeschützt auf dem Laken liegen, völlig starr, als seien sie von einer Eisschicht überzogen.
    Sie zieht den Kopf zurück auf die Matratze, tastet hinter sich. Findet die zusammengeknüllte Decke am Fußende und zieht sie mit den Zehen nach oben. Ihre Zähne schlagen aneinander. Ihr Atem steht weiß in der Luft, was, wenn draußen angeblich schon frühlingshafte Temperaturen herrschen sollen, nun nicht wirklich glaubhaft wirkt, aber vielleicht ist meiner Mutter da ja etwas von der Nacht nach Michaelas Party in die Erzählung hineingerutscht, der Unfall, die Krankheit danach, die wirren Träume. Vielleicht musste sie Platz in ihrem Gedächtnis schaffen für all die verbotenen Erinnerungen und hat die beiden Geschichten kurzerhand in dieselbe Kiste gepackt, sodass sie im Laufe der Jahre durcheinandergekommen sind. Oder vielleicht stimmt es auch, dass sich alles wiederholt. Vielleicht steht uns wirklich nur eine begrenzte Zahl unterschiedlicher Szenarien im Leben zur Verfügung, ein paar Komödien, ein paar Dramen, und wer die durch hat, darf nur noch auf Variationen hoffen. Warum sonst sollte jemand so scharf darauf sein, in einem neuen Stück mitzuspielen, dass er dafür sein Dauerengagement für die seit mehr als zwei Jahrzehnten mit Bravour gezeigte Hauptrolle riskiert?
    Aber bei Erklärungen sind wir noch nicht. Zumindest ist es meine Mutter noch nicht. Dazu müsste sie ja auch erst mal das mit dem Denken hinkriegen, und noch verweigert ihr Verstand die Mithilfe. Stattdessen liefert er sie schutzlos dem Schlaf aus, der sich immer wieder auf sie wirft. Stundenlang. Tagelang. Wochen-, monate-, jahrelang, bis er endlich den Griff ein wenig lockert und sie hochfahren lässt, kalten Schweiß im Rücken, einen verräterischen Schrei im Hals. Doch zum Glück ist auch ihre Stimme noch nicht zurück. Wie eine Kindersicherung versperren ihr die geschwollenen Mandeln den Weg in die Freiheit und schützen meine Mutter vor sich selbst.
    Arno kommt zurück, um ihr noch mehr von seinem Saft einzuflößen, ein Hausmittel seiner Mutter. Der Glaube daran ist das Einzige, was ihm von ihr geblieben ist.
    »Was zum Teufel hast du dir da nur eingefangen?«, sagt er und macht ein besorgtes Gesicht.
    Das ist wahrscheinlich Gottes Strafe, denkt sie und schämt sich sofort dafür. Und dann dafür, dass sie sich schämt. Als gäbe es nichts Schlimmeres, für das sie sich zu schämen hätte. Die Hand wie einen Schutzschild auf der Brust, bereitet sie sich auf das schlechte Gewissen vor, die Reue, den Selbsthass, der jede Sekunde zuschlagen kann. Muss. Soll. Aber es aus unerfindlichen Gründen nicht tut.
    Du hast ihn betrogen, versucht sie sich auf die Sprünge zu helfen. Du hast das wirklich getan. Du bist eine Betrügerin, eine miese kleine Betrügerin. Sie formt die Worte mit den Lippen, hält sie im Mund fest, wartet darauf, dass die Schuld darin zu wirken beginnt, wie eine Chilischote, die man schon leichthin in die Runde lächelnd runterschlucken will und die einem dann plötzlich doch mit ihrer Schärfe die Tränen in die Augen treibt.
    Sie denkt an den letzten Abend zurück, erinnert sich daran, wie sie ohne ein Wort im Bett verschwunden ist. »Tut mir leid wegen heute Morgen«, hatte sie Arno in ihrem Rücken murmeln hören. Und sie? Hatte noch immer nichts gesagt, hatte nur nickend seine völlig unbegründete Entschuldigung akzeptiert und sich unter der Decke verkrochen, bis sie tatsächlich eingeschlafen war, einfach so, als sei nichts passiert. Ist das etwa nicht genug? Sollte das nicht reichen für ein paar Gewissensbisse?
    Sie bohrt die Finger zwischen die Rippen, aber nichts kommt, keine Beklemmung, keine Angst, keine inneren Geständnismonologe, nur mein Vater natürlich, schon wieder.
    »Zeit zu duschen!«, sagt er mit seiner neuen Ich-bin-hier-der-Mann-im-Haus-Stimme und legt ihren Arm um seine Schulter.
    Meine Mutter lässt sich hinter ihm her ins Badezimmer schleifen, sieht ihre Kleider, die neben ihr auf den Boden segeln, und dann wieder Arnos Gesicht, das jetzt noch besorgter aussieht.
    »Wo hast du denn die ganzen

Weitere Kostenlose Bücher