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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Stricker
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auf den Beckenknochen, als habe sie vergessen, wo sie eigentlich hin will. Dann stößt sie die Hand zielstrebig auf die Stelle zu, an ihrem Bauchnabel vorbei, dahin, wo er sie  …
    Das Bettgestell kreischt auf, so heftig tritt sie aus.
    Sie reißt die Augen auf, schlingt die Arme um ihren Körper, als habe sie Angst, es könne ihn sonst auseinanderreißen. Der Druck in ihrem Kopf wird noch größer.
    Sie bohrt die Nägel in die Schläfen, hat das unbestimmte Gefühl, sich konzentrieren zu müssen, als gäbe es ein kompliziertes Problem zu lösen. Denk nach, ruft sie sich zu, denk!, während sie sich zurück an die Tram versetzt. Sie sieht die Menschenmenge und sich selbst darin, ihre eigenen Konturen, die Härchen, die ihr ins Gesicht wehen, das selbst ein blinder Fleck bleibt, die Ahnung einer Nase, darunter den Bauch, ihren Arm, der sein Hosenbein berührt, ihre Hand auf seinem Reißverschluss, das Rutschbahnhäuschen, seinen Körper im Torbogen. Nein, nicht so schnell, versucht sie sich zur Ordnung zu rufen, schön der Reihe nach, aber schon wird sie von der Schaukel mitgerissen, vor und zurück, und vor, und zurück, du musst nachdenken, nachdenken musst du, du musst nachdenken, nachdenken musst du, die Worte verfangen sich in der Eisenkette, wickeln sich umeinander, bis nur noch die bloßen Laute übrig bleiben, DEEE nk, NAAA ch, NAAA ch, DEEE nk.
    Sie zwingt sich, zurück zur Haltestelle zu gehen und dort zu warten, bis ihr Atem ein wenig abgeflacht ist, sich zu sammeln, erstmal alles zu sortieren, Restaurant, Krankenwagen, Sanitäter, aber ihre Gedanken reißen sich wieder los und eilen weiter, an der Ampel vorbei, die Straße entlang. Sie sieht die Hose an ihren Knien, seine winzige, brennende Zigarette, spürt ihn hinter sich, während sie gegen die Bretterwand knallt. Sie schaut durch die Latten, betrachtet das Ende der Rutsche, die Sandmulde, die sich davor auftut, da, wo die Kinder mit den Füßen aufkommen und aufspringen, »Papi, noch mal!« Die kurzen Beine stolpern auf den Rasen. Elternhände heben sie hoch, tragen sie um das Häuschen herum und setzen sie oben wieder ab. Ihre Wange reibt über das nasse Holz. »So ist gut«, sagt er zufrieden. Die Kindersohlen poltern über sie hinweg. Was, wenn einer von denen nach unten kuckt und uns sieht?, will sie sagen, aber da drängt er sich schon in ihren Mund. Der Saft läuft ihren Rachen hinunter. Es schmeckt so widerlich, dass sie fast ausspuckt.
    »Ja, so ist gut«, hört sie Arno sagen, während er den Löffel zwischen ihren Zähnen herauszieht. Er dreht eine braune Flasche auf den Kopf, beginnt zu zählen. Durch die angelehnte Tür fällt ein wenig Licht ins Zimmer. Meine Mutter folgt seinem Arm, der auf sie zu balanciert. Der Löffel ist so voll, dass die Flüssigkeit sich an den Rändern aufzutürmen scheint.
    Sie presst die Lippen aufeinander, aber er scheint ihren Widerstand nicht mal zu bemerken, schon ergießt sich die bittere Flüssigkeit abermals in ihren Mund.
    »Na siehst du«, sagt er und fängt mit dem Löffel einen Tropfen am Kinn auf.
    Er zieht die Decke nach oben, hebt ihren Kopf an, um das Kissen darunter auszuschütteln. Wieder wundert sie sich über seine plötzliche Kraft. Ihre Augen folgen ihm, während er zum Vorhang geht und nach einem Spalt sucht, den er noch zuziehen könnte. Er ist so groß und breit, dass das Fenster dahinter gar nicht mehr zu sehen ist, nur Wand und er und wieder Wand.
    Ich muss wirklich ganz schön schwach sein, wenn er mit einem Mal so stark ist, denkt sie  – in Wahrheit wahrscheinlich noch nicht in diesem Moment, sondern erst etwas später, als sie wieder halbwegs bei Sinnen ist. Aber mit der Chronologie darf man es hier nicht so genau nehmen. Das Zeitgefühl meiner Mutter ist unter den Fieberschüben, die immer wieder von ihr Besitz ergreifen, fast vollends dahingeschmolzen. Und Arno tut sein Übriges, indem er den Radiowecker aus der Steckdose zieht. Oder schon gezogen hat. Oder erst ziehen wird. Dazu sagt er Sätze wie »schlaf jetzt«, »keine Widerrede«, »du bleibst liegen!« Und meine Mutter, überrascht, dass er den Imperativ überhaupt kann, lässt sich gehorsam nach hinten fallen und sinkt zurück in den Schlaf, wo er schon auf sie wartet. Sie geht auf ihn zu, streckt die Hand nach ihm aus, aber in dem Moment, in dem sie seinen Arm berührt, dreht er sich unter ihren Fingern weg und läuft los. »Warte!«, ruft sie, »wart!« Sie rennt ihm nach, in den Wald hinein. Die Bäume stecken die

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