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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Stricker
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ihr gerade Kamillenkompressen machen«, sagt mein Vater.
    Meine Großmutter schüttelt energisch den Kopf. »Auf Kamille bin ich allergisch.«
    Arno schiebt die Hände in die Hosentaschen. »Ich wollt sie ja auch eigentlich nicht auf deine, sondern auf ihre Augen legen«, kratzt er sein letztes bisschen Autorität zusammen.
    »So was wird oft familiär weitergegeben«, sagt meine Großmutter beleidigt. Der Rost springt zurück. »Mein Gott, diese Luft aber auch!« Sie läuft durch die Wohnung, um auch alle übrigen Fenster aufzureißen.
    »Glaubst du nicht, sie braucht noch Ruhe?«, hört meine Mutter Arno durch die offene Tür.
    »Unsinn. Wenn ich den ganzen Tag im Bett rumliegen würde, würde ich mich auch nicht gut fühlen.«
    Töpfe werden auf den Herd geknallt, Schränke aufgerissen, »Gas? Was, wenn da mal einer vergisst, auszumachen? Das ist doch lebensgefährlich!«
    Meine Mutter reibt sich die Augen. Wie ein Marder, der nach langem Winter zum ersten Mal aus seiner Höhle gekrochen kommt, blinzelt sie ins Licht. Ihr Blick gleitet an dem Löffel auf dem Nachttisch entlang, der von einem grünlichen Film überzogen ist, über die braune Flasche daneben, wagt sich endlich auf den Innenhof hinaus. Sie schaut nach links, dreht den Kopf so weit, dass ihr unwillkürlich die Hand in den Nacken fährt, aber von hier aus kann sie nur die Dachrinne erkennen.
    Sie setzt sich auf, überrascht, wie leicht das plötzlich geht. Vergräbt die Zehen im Perser. Sie legt die Hände um die Bettkante, versucht sich aufzurichten.
    »Was machst du denn?«, schreit meine Großmutter und drückt sie zurück aufs Bett. »Schön warten.«
    Und meine Mutter wartet, wenn auch nicht schön, soviel kann sie dann doch in den Augen meiner Großmutter lesen, während die ihr abermals das Haar aus dem Gesicht streicht.
    »Du hättest mich wirklich früher anrufen sollen«, sagt sie vorwurfsvoll zu Arno, als sei er jetzt auch an dem traurigen Anblick schuld.
    »Ich wollte doch nur  … «, murmelt er, aber meine Großmutter hört ihm gar nicht zu. Sie läuft zurück in die Küche, klappert wieder ein wenig herum, erbittet sich lauthals eine Wegbeschreibung zum Salz, Pfeffer, habt ihr Thymian? Die Dunstabzugshaube schnauft. Dann kommt sie mit einem Teller zurück, lässt sich den Stuhl dicht ans Bett heranziehen und beginnt meine Mutter zu füttern.
    »Das tut gut, was?«, sagt sie und pustet.
    Arno setzt sich auf die andere Seite. Er greift nach der Hand meiner Mutter und zieht sie zu sich heran. Der Oberkörper meiner Großmutter gerät ins Schwanken, so weit muss sie sich übers Bett lehnen, um an den Mund meiner Mutter heranzukommen. Sie versucht sich abzustützen, drückt die Hand auf den Oberschenkel unter der Decke. Meine Mutter stöhnt auf.
    »Was ist denn?«, ruft meine Großmutter und zieht die Hand zurück.
    »Sie hat da lauter blaue Flecken«, erklärt Arno beflissen und, etwas unsicher, »ich dachte, die kommen vielleicht auch von der Erkältung.«
    »I wo!«, ruft meine Großmutter. Sie stellt den Teller auf den Nachttisch und reißt das Nachthemd nach oben, starrt mit großen Augen auf die zerschundenen Beine. »Mein Gott! Wie ist denn das passiert?«
    Meine Mutter schluckt, obwohl längst keine Suppe mehr in ihrem Mund ist. »Da muss ich mich gestern gestoßen haben, als der Nachbarsjunge auf mich gefallen ist«, krächzt sie heiser, was dann wohl bedeutet, dass ihr Verstand langsam wieder kooperiert.
    Sie fragt sich, woher die Flecken denn nun eigentlich wirklich stammen, von den Stößen im Rutschbahnhäuschen oder doch eher von dem Aufprall in der Tram. Aber bevor sie sich entscheiden kann, beginnt meine Großmutter schon den Kopf zu schütteln.
    »Das wisst ihr ja noch gar nicht!«, ruft sie und schlägt erneut auf die Decke.
    »Was denn?«, fragt Arno brav.
    Meine Großmutter richtet sich auf. »Der Nachbarsjunge ist tot.«
    »Mein Gott!«, ruft diesmal mein Vater, »der Pimpf? Der war doch sicher erst fünf oder sechs!«
    »Sechs«, sagt meine Großmutter und, als fühle sie sich genötigt, in der Abwesenheit meines Großvaters auch seinen Part zu übernehmen: »Was biste denn so überrascht? Haste geglaubt, Kinder sterben nicht? Ich sag dir, wenn de damals nach em Kriesch übern Friedhof gelaufen bist, war die Hälfte der Gräber grad mal so groß.« Sie hält die Hände hüftbreit auseinander. »Aber ihr kennt so was heit ja nur noch vum Fernsehe.«
    Arno schüttelt fassungslos den Kopf. »Was ist denn

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