Fünf Kopeken
Gelegenheit gab er ihn zum Besten, bis er ihn eines Morgens, kurz bevor sie Abitur machte, dann sogar wieder ihr erzählte. Sie denkt daran, wie er sie ansah, so erwartungsvoll, dass sie ihm endlich den Gefallen tat und lachte.
Er nimmt wieder einen Zug, obwohl der Stummel bereits so kurz ist, dass es aussieht, als würde er die Lippen direkt um seine Fingerspitzen legen. Asche weht auf den Boden. Wieso denn eigentlich voluminöse Expansion?, fällt ihr ein. Wieso nicht einfach Volumen? Das ist doch redundant. Der Filter fährt über den Holzbalken. Dann sieht sie ihn loslaufen, genauso unvermittelt wie zuvor. Die Schaukel schwingt hin und her, während er mit großen Schritten über den Rasen stapft. Sie schafft es gerade noch durch das Türchen, bevor ihr die Klinke gegen das Bein stößt.
Er läuft den Weg entlang, zurück auf die Straße. Und sie ihm hinterher, ein paar Meter Abstand haltend, als sei eine Schnur zwischen ihnen gespannt, die sich nicht durchhängen darf. Der Verkehr rauscht an ihr vorbei, eine Ampel springt auf Rot. Wütendes Hupen folgt ihr auf die andere Straßenseite. Die Haut an ihren Innenschenkeln spannt. Sie hält wieder die Gürtelschlaufen fest, während sie abbiegt, wo er abbiegt, anhält, wenn er anhält, weiterläuft, sobald er weiterläuft. Sie riecht den Knoblauch, rutscht fast auf ein paar Zwiebeln aus, als sie endlich aufschaut, den Dönerladen sieht, merkt, dass sie auf dem Weg nach Hause sind, dass er auf dem Weg nach Hause ist, das auch ihr Zuhause ist, auch wenn ihr dieser Gedanke plötzlich absurd erscheint. Wie kann es denn sein, dass die Häuser, an denen sie jeden Tag vorbeigeht, dieselben sind, an denen er jeden Tag vorbeigeht? Wie kann die Straße, die in ihr Leben führt, gleichzeitig in dieses andere Leben münden, von dem sie absolut nichts weiß? Sie betrachtet die Fassaden, die ihr plötzlich völlig unbekannt vorkommen, als würde sich seine Fremdheit auf sie übertragen, die Eingänge mit den winzigen Briefkästen, die Parkbuchten, ihre Tür, die jetzt auch seine ist. Sie versucht sich seine Wohnung vorzustellen, ein Zimmer um ihn herum zu bauen. Sie faltet ihr eigenes Wohnzimmer auf, wirft die schweren Mahagonimöbel raus und stellt ihm einen neuen Stuhl hinein, vielleicht einen Drehstuhl, wie der im Spätkauf. Sie hängt das Gemälde mit der Frau dahinter, zieht die Vorhänge auf, aber sofort drängt sich ihr eigener Kopf in den Hintergrund, ihre Augen, die im Fenster lauern, und plötzlich wird ihr klar, dass es genauso sein wird, dass alles wieder von vorne anfangen wird, sobald sie den Hauseingang erreichen. Sie wird in ihre Wohnung gehen und er in seine. Aber in ihrem Kopf wird er umdrehen und stattdessen sie verfolgen, sich hinter ihr durch die Tür zwängen, sie durch ihre Wohnung jagen. Sie wird ins Bad laufen, das Sperma von den Beinen waschen, wird ihre eigenen Sachen anziehen, ihre Bücher aufschlagen, wird versuchen, weiterzumachen, als sei nichts passiert. Aber er wird sie nicht lassen, wird sich zwischen die Seiten drängen, ihren Kopf verwüsten, keine Ruhe geben, bis sie wieder am Fenster steht und zu ihm herüberstarrt, nur dass es diesmal noch schlimmer sein wird, weil mit ihr die Erinnerung vor der Scheibe kauern wird. Wieder wird sie warten, darauf, dass sie einen kurzen Blick auf ihn werfen kann. Darauf, dass er einen Blick auf sie wirft. Aber das wird nicht passieren. Nie wieder wird er sie so ansehen, wie damals in der Bahn. Stattdessen wird sie sich selbst sehen, mit dem Schlüpfer um die Waden, das plattgedrückte Gesicht an der Bretterwand, wie sie ihm nachläuft, wie er vor ihr wegläuft, genau diesen Moment wird sie sehen und die Scham spüren.
Ihre Beine werden schwer. Je mehr sie sich anstrengt, mit ihm Schritt zu halten, desto weiter fällt sie zurück, als würde sie rückwärts gehen. Verzweifelt schaut sie ihm nach, wie er unter das Vordach läuft, die Hand in die Hosentasche steckt, den Schlüssel herauszieht. Die Tür springt auf.
Aber er geht nicht hindurch, hält nur die Tür auf, gerade so weit, dass sie nicht wieder zuschnappt.
»Geh besser vor«, sagt er, als sie endlich bei ihm ankommt.
»Wieso?«, fragt sie. Fast ist sie ein bisschen verwundert, dass er sich überhaupt noch an sie erinnert.
Er stößt die Tür weiter auf, fängt sie im Zurückschwingen wieder auf. »Damit dein Mann uns nicht zusammen sieht«, sagt er und grinst, das gleiche, schiefe Grinsen, das sie die ganzen Stunden oder Tage oder Wochen so
Weitere Kostenlose Bücher