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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Stricker
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der Wand entlang, bis sie endlich den Schalter unter den Fingern spürt und die scheckige Holztür vor ihr auftaucht.
    Die Zähne in die Unterlippe gebohrt macht sie einen Schritt darauf zu. Legt das Ohr daran. Hält den Atem an. Schaut verwirrt nach rechts. Und begreift mit einem Mal, dass sie auf der falschen Seite steht.
    Sie wendet sich der Metalltür zu, lässt den Blick daran entlanggleiten. Aber tatsächlich scheint es keine Klingel zu geben.
    Ihre Finger verkriechen sich in der Faust. Sie holt Luft, federt auf den Zehenspitzen, als stünde sie auf dem Zehn-Meter-Brett, dann lässt sie die Fingerknöchel gegen die kalte Oberfläche schlagen. Und macht sofort wieder einen Schritt nach hinten.
    Sie streicht die Haare glatt. Fährt mit den Handkanten am Scheitel entlang, während sie wie gebannt auf die Tür starrt. Aber außer der ohrenbetäubenden Musik ist nichts zu hören.
    Sie klopft noch mal, diesmal mit der flachen Hand, wie sie das im Fernsehen machen, wenn einer zu Unrecht eingesperrt wird und dabei »rauslassen, rauslassen!« schreit. Nur dass sie ja rein will. Und unschuldig ist sie natürlich auch nicht.
    Sie biegt die Finger nach hinten, hämmert immer fester, wirft sich richtiggehend gegen die Tür, bis endlich ein Poltern zu hören ist, Schritte, dann kracht es so laut im Schloss, als handle es sich tatsächlich um die Tür eines Tresors.
    Ein Mädchen taucht im Türspalt auf, nicht das vom Müll  – »aber doch vom gleichen Wurf«, wie meine Mutter sagte und dabei verächtlich mit der Zungenspitze an die Vorderzähne stieß  – , das Gesicht nach hinten gewandt, sodass zuerst nur die weißblonden Flusen zu sehen sind, die ihr vom Kopf stehen wie ein aufgeplatztes Kopfkissen. Über ihrer Brust steht mit glitzernden Strasssteinen »Surfing girl« geschrieben. Dazu trägt sie einen Rock, der sehr rot und sehr, sehr kurz ist.
    Die Musik kreischt ins Treppenhaus und das Mädchen etwas nach hinten, wobei sich die Tür noch weiter öffnet und ein langer, am Ende abknickender Flur sichtbar wird, genau wie der meiner Mutter. Nur völlig anders. Viel schmaler, höchstens anderthalb Meter breit und völlig mit Schuhen bedeckt, haufenweise Schuhe, die durcheinanderfliegen, sodass es aussieht, als stünde das Mädchen inmitten eines Schlachtfelds.
    »Entschuldigen Sie bitte die Störung«, sagt meine Mutter.
    Das Mädchen dreht sich um und klatscht sich mit den Händen auf den Mund. Durch die flamingoroten Nägel ist ein Kichern zu hören.
    »Wären Sie vielleicht so freundlich, die Musik ein bisschen leiser zu machen?«
    Das Mädchen lässt die Arme sinken, entblößt ihr Gesicht, das genauso vermalt ist wie das der anderen. »Ich nix deutsch«, sagt sie und schüttelt sich, als hätte sie einen grandiosen Witz gemacht. Dann dreht sie sich um und tänzelt um die Schuhe herum in die Wohnung. Von hinten sieht meine Mutter den dunklen Einsatz ihrer Strumpfhose.
    Sie steht da und wartet. Vom andern Ende des Flures hört man einen Mann etwas rufen.
    Sie streicht sich wieder die Haare glatt, dreht den Kopf nach hinten, damit sie, wenn das Mädchen oder jemand anderes oder vielleicht tatsächlich er, hoffentlich er, auch wenn jetzt, wo er so nah ist, die Vorstellung, ihn wirklich zu sehen dann doch …, also, so richtig … damit sie sich also, wenn wer auch immer kommt, nach vorne drehen kann und es nicht so aussieht, als würde sie nur dastehen und warten.
    Aber es kommt niemand.
    Meine Mutter hebt die Hand und klopft noch mal an die Tür, auch wenn die jetzt weit offen steht. »Entschuldigung?«, sagt sie etwas lauter.
    Vielleicht sollte ich einfach wieder runtergehen, denkt sie.
    Als plötzlich doch jemand den Flur entlangkommt, ein Mann, vielleicht, nein, nicht er, dieser hier ist viel größer, riesengroß, fast sieht es aus, als müsse er sich bücken, um mit seinem riesigen, quadratischen Schädel nicht an der Decke anzustoßen. Dafür sind seine Augen so klein, dass nicht mal Platz für eine Farbe ist.
    Er bleibt direkt vor ihr stehen, führt das Glas zum Mund, das in seiner riesigen Pranke fast verschwindet, und nimmt einen Schluck. Mit der andern packt er ihre Finger und quetscht sie zusammen, während er sie von Kopf bis Fuß mustert.
    »Dima«, sagt er. Die Fahne aus seinem Mund ist nicht zu überriechen.
    Meine Mutter ist sich nicht ganz sicher, ob das sein Name ist oder nur wieder ein Wort, das sie nicht versteht. »Ich, äh, ich komm wegen der Musik«, sagt sie und zeigt in die Wohnung,

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