Fünf Kopeken
auf, huschen über ihr Gesicht, bevor sie wieder in der Dunkelheit verschwinden.
»Da schau an, wer aufgewacht ist!«, ruft der Dicke und richtet sich halb auf.
Meine Mutter folgt der Flasche, die sich zum Spalt hin bewegt. »Na Alex, alles fit Schritt?«
Alex!, denkt sie.
Das Gorbatschowschild schlägt gegen einen Bierkrug, der aus dem Spalt aufsteigt. Die Hand, die ihn hält, kann sie nicht sehen, aber jetzt kommt auch auf der Matratze Unruhe auf. Der Schwarze, »ne, nicht weil es dunkel war«, »so wie die in Afrika«, endlich »ein Neger halt, mein Gott« stützt sich weiter auf. »What she want?«, fragt er.
Gute Frage, denkt meine Mutter, was will ich denn eigentlich hier?
Sie sieht, wie die Handfläche, die nicht ganz so schwarz, sondern eher dunkelbraun ist, über die Fessel des alten Mädchens streicht, sieht das Mädchen selbst, das ebenfalls hochkommt und jetzt wirklich furchtbar alt wirkt. Statt des Fetzens Stoff hat sie ein Nachthemd an, das aber auch nur ein Fetzen ist. Die Farbe ist von ihrem Gesicht gewichen, und eigentlich sieht es aus, als habe sie gar kein Gesicht, so wenig ist da, was sich aus der kreisrunden Fläche heraustraut. Die Nase ist flach, die Lippen scheinen geradezu nach innen zu zeigen, nur die Wimpern, die wahrscheinlich angeklebt sind, rollen in einem langen Bogen nach vorne. Sie zuckt die Schultern und schaut zum Sofa, sagt etwas, das wie eine Frage klingt. Oder vielleicht auch wie ein Vorwurf. Das Einzige, was meine Mutter aus den sich an den Stirnhöhlen entlang quetschenden Lauten herausfischen kann, ist »Sascha«, und so nervös sie ist, so stolz ist sie doch, dass sie weiß, dass auch damit er gemeint ist. Auch wenn er nichts tut, woraus man schließen könnte, dass auch er das weiß. Der stoppelige Hinterkopf hängt unbeweglich nach vorne. Erst als das Mädchen noch mal lauter ruft und schließlich mit der Hand gegen den Tisch stößt, sodass eine der leeren Flaschen neben ihm auf den Boden fällt, brummt er etwas zwischen den Knien hindurch, bevor er wieder das Gesicht dahinter versteckt.
Der mit dem eckigen Schädel, dessen Name wohl wirklich Dima ist, das hat sie irgendwie mitgekriegt, auch wenn ihr die Szene dazu verloren gegangen ist, zieht seine Pranken von ihren Schultern und redet auf sie ein.
»Entschuldigen Sie bitte, ich versteh leider nicht«, sagt meine Mutter und versucht Alex, den sie jetzt auch in ihrem Kopf so nennt, einen Blick zuzuwerfen. Aber zwischen den Knien ist kein Durchkommen.
»Können Sie vielleicht …?«, fragt sie in Richtung des Dicken, woraufhin der sich als »Paul« vor-, ansonsten jedoch wie gesagt als völlig nutzlos herausstellt. »Ich versteh auch nur Bahnhof!«, brüllt er gegen den Lärm an. Das Mädchen mit den blonden Flusen lacht schon wieder.
Meine Mutter dreht sich zu den anderen. »Die Musik«, ruft sie, obwohl ihr die mittlerweile völlig egal ist, »zu laut!«
Das alte Mädchen setzt sich ganz auf und ruft Alex erneut etwas zu.
Der Bierkrug bewegt sich langsam nach oben. Und wieder nach unten. Ein, ja, tatsächlich sein Arm fährt auf die Sitzfläche.
»Sie fragt, warum du überhaupt an einem Samstagabend zu Hause bist«, hört meine Mutter ihn endlich sagen.
»Wie?«, fragt sie und lehnt sich nach vorne.
Dima nimmt sein Glas vom Fernseher. Er schiebt das pausenlos kichernde Mädchen vom Sessel und setzt sich selbst darauf.
»Wochenende!«, ruft er und nickt meiner Mutter zu. Das Wort kommt so ungelenk aus seinem Mund, als habe er es gerade eben erst gelernt. Er lässt im Takt der Musik den Zeigefinger nach oben springen, fast so wie zuvor Arno. Ruft etwas. Sieht zu Alex, während seine Hand eine kreisende Bewegung macht.
»Er sagt, Sie sollen einfach mitfeiern«, kommt es aus dem Spalt.
Wieso siezt er mich denn jetzt plötzlich?, denkt meine Mutter und tritt noch näher an den Tisch, bis sie endlich undeutlich sein Gesicht sehen kann.
»Würd ich ja gerne«, sagt sie, »aber, also, wir müssen schlafen.« Sie legt die Handflächen wie ein Kommunionkind flach aneinander und den Kopf darauf. »Schla-fen!« brüllt sie.
»Um halb elf?«, kreischt Paul, der jetzt zwischen Dimas Beinen hockt, »wie seid ihr denn drauf?«
Er wirft Alex einen Blick zu, vielleicht, weil der auf Augenhöhe sitzt, vielleicht, weil er offenbar der Einzige ist, der deutsch spricht. Vielleicht starrt auch einfach nur meine Mutter Alex so an, dass in ihrem Kopf auch alle anderen Blicke auf ihn gerichtet sind. Einen Augenblick glaubt
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