Fünf Kopeken
sie sein Grinsen zu sehen, aber das kann auch mal wieder das in ihrem Bauch sein.
»Wessi, he?«, sagt Paul, der, »das hab ich vorhin vergessen zu erwähnen«, ganz furchtbar berlinert, was sie aber leider beim Erzählen nicht nachmachen könne, »das denkste dir halt jetzt dazu.« Er schlägt sich auf den Mund, als würde er gähnen. »Trautes Heim, Glück allein, he?«
Diesmal ist meine Mutter sich ganz sicher, das schiefe Grinsen gesehen zu haben.
»Es ist ja nicht wegen mir«, sagt sie schnell, »aber …«, sie schaut von einem zum anderen, »aber das Kind braucht halt seinen Schlaf.« Die Worte fallen so schnell aus ihr heraus, dass sie sie nicht aufhalten kann.
Alex’ Hals biegt sich herum. Er dreht ihr sein Gesicht zu, öffnet ganz langsam die Lider. Zum ersten Mal seit diesem Moment damals in der Bahn spürt sie seinen Blick auf sich, sieht ihn nicht nur, sondern fühlt ihn auch.
»Du hast ein Kind?«, fragt er, jetzt offenbar wieder per du.
Ihr Kinn nickt. Hüpft immer weiter auf und ab, bis ihm endlich die Zunge folgt. »Ja«, sagt sie.
Das ist das erste Mal, dass sie ihn anlügt.
Dima kurbelt wieder mit der Hand. Aber diesmal sagt Alex nichts. Erst als auch das alte Mädchen wieder an den Tisch stößt, brummt er etwas auf Russisch.
Das ist das erste Mal, dass er seine Freunde anlügt.
Aber das kann meine Mutter in diesem Moment natürlich noch nicht wissen. Alles, was sie wahrnimmt, ist, dass Dima wie irre zu lachen beginnt. Seine Augen schrumpfen auf Stecknadelgröße, während er den Kopf in den Nacken wirft.
»Was?«, fragt meine Mutter und versucht auch ein bisschen zu lächeln.
Von oben sieht sie Alex’ Hand, die eine wegwerfende Bewegung macht.
Das alte Mädchen stellt eine Frage, beginnt, als Alex wieder etwas murmelt, ebenfalls sich zu schütteln.
Dima kriegt sich gar nicht mehr ein. Er grölt immer weiter, zuckt mit dem Becken. Und plötzlich erkennt meine Mutter das Lachen wieder.
Das Blut schießt ihr in den Kopf.
Das Meerschweinchenquieken erklingt wieder.
»Was?«, fragt auch Paul, bekommt jedoch ebenfalls keine Antwort. Aber die Tatsache, dass er keine Ahnung hat, um was es geht, scheint ihn nicht am Mitlachen zu hindern. Sein ganzer, wabbeliger Körper springt auf und ab, bis er vor lauter Freude einen Schluckauf bekommt. Er setzt die Flasche an die Lippen und lehnt sich weit zurück.
»Dawolna!«, ruft das alte Mädchen.
Paul reißt den Kopf noch weiter nach hinten. In seinen Backen bilden sich tiefe Kuhlen.
»Genug«, ruft das Mädchen.
Es tropft auf Pauls Bauch. Auf allen dreien, die ihm zur Verfügung stehen, krabbelt er über den Boden und hält dem alten Mädchen die Flasche hin.
Sie drückt sie an den Mund und nimmt einen langen Schluck, lässt sich wieder auf die Matratze fallen. Der Schwarze legt den Arm um sie. Und endlich hört auch Dima auf zu lachen. Er lässt sich neben Alex in den Spalt sinken, schaut dann aber doch noch mal zu meiner Mutter und bohrt die Zunge in die Backe, wobei sich seine Äuglein wieder zusammenziehen.
Meine Mutter steht da, schaut zu, wie sie mit ihrem Abend weitermachen, als habe nur mal kurz jemand »Pause« gedrückt und den Knopf gleich wieder losgelassen.
Paul kriecht zur Matratze und holt sich seine Flasche zurück. Er dreht sie auf den Kopf, hängt sich darunter und steckt die Zunge weit heraus, während die schwarzen Hände hinter ihm über den Nachthemdrücken streichen.
»Hören Sie«, sagt meine Mutter, was aber niemand zu tun scheint.
Sie krallt die Finger in die Lehne, beugt sich nach vorne, aber Alex’ Blick lässt sich nicht einfangen. Aus den Lautsprechern hallt jetzt etwas, das wie ein Volkslied klingt. Ein Männerchor singt eine immergleiche, kurze Melodie, bei jedem Mal ein bisschen schneller, während der unvermeidliche Beat darüber hinwegschmatzt.
Sie sieht die Frau auf dem Poster, sieht, wie das Mädchen mit den Flusen mitsingt. Und dann wieder ihn, wie er sie nicht sieht, wie er weder an ihr vorbei- oder über sie hinweg-, sondern sie anscheinend ganz einfach wirklich nicht sieht. So vollständig ignoriert er sie, dass er ihr dazu nicht mal den Rücken zuwenden muss, plaudert ganz ruhig mit Dima, als sei meine Mutter nicht nur aus seinem Kopf, sondern tatsächlich verschwunden.
»Das ist Ruhestörung, verdammt noch mal!«, schießt es mit einem Mal aus ihr heraus, so laut, das sie selbst davor erschrickt, »wenn Sie nicht leiser machen, ruf ich die Polizei«, und das Wort haben sie offenbar alle
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