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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Stricker
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während er ihren anderen Arm weiter durchschüttelt.
    Seine Zunge fährt über die Oberlippe. »Dawai!«
    Meine Mutter schaut ihn verwirrt an.
    Er hebt die Pranke und holt aus, reißt den Arm nach vorne, als würde er einen Tennisball in den Flur schleudern. »Kommst du!«
    Meine Mutter schaut zurück ins Treppenhaus, in dem wieder das Licht erlischt, presst die Hand auf den Bauch.
    »Kommst!«, sagt er noch mal und zieht die Tür noch weiter auf, bis meine Mutter schüchtern einen Fuß über die Schwelle setzt.
    Er läuft voraus, kuckt immer wieder über die Schulter, während ihm meine Mutter ins Schlafzimmer folgt, nur dass das hier offenbar das Wohnzimmer ist. An der Wand neben dem Fenster, da, wo bei ihr das Bett steht, liegt eine Matratze und ein, nein, zwei Körper darauf. Meine Mutter sieht die Frauenbeine, die über den Rand hängen, braucht einen Augenblick, bis sie in dem schummrigen Licht auch einen schwarzen Kopf erkennt, der offenbar zu dem zweiten Körper gehört. Daneben stehen ein Sofa und ein Ohrensessel, auf dem das Mädchen sitzt, das ihr aufgemacht hat und sich jetzt mit einem dicken Kerl zu ihren Füßen unterhält. Oder zumindest bewegen sie mal beide die Lippen. Wie sie sich bei dem Lärm verständigen, ist meiner Mutter ein Rätsel. Und ohne den auch, aber das wird sie erst ein paar Minuten später denken, wenn der Dicke auf ihre Bitte, zu übersetzen, »Russisch? Quatsch, ich sprech nur Wodka« bellt und dabei so lacht, dass es sich anhört, als würde ein Meerschweinchen stranguliert. Erstmal ist meine Mutter jedoch vollauf damit beschäftigt, den Raum nach den Katzenaugen abzusuchen. Aber die sind nirgendwo zu sehen.
    Vielleicht wohnt er ja doch hinter der Holztür, denkt sie, was nun aber doch ein ziemlicher Zufall wäre. Nicht nur wegen des Posters, das eine Frau in Unterwäsche zeigt und wohl das Gemälde ist, das meine Mutter vom Fensterbrett aus zu sehen geglaubt hat. Sondern auch wegen des ganzen anderen russischen Krams, der überall herumsteht. Auf der Kommode neben der Tür reiht sich von groß nach klein ein Set Babuschkapüppchen aneinander. Darunter hängt ein Stoffband mit einem kyrillischen Schriftzug, wahrscheinlich der Schal eines Sportvereins oder vielleicht auch ein guter Spruch fürs Leben. Auf der Flasche, die der Dicke in seinen Wurstfingern hält, kann sie ein »G«, ein »o« und ein »r« entziffern, bevor er die Hand beiseitezieht und auch das »batschow« sichtbar wird, und als wäre das noch nicht genug, wechselt die Frauenstimme, die gelegentlich etwas zwischen den Beat stöhnt, in dem Moment von »Baby, Baby« zu »dragoi«, oder »dorogoi« oder zumindest zu sonst etwas, was wohl Russisch sein soll. Die Dichte an Sowjetklischees ist so groß, dass man fast glauben könnte, die Anwesenden würden diese ganze UdSSR -Enklave-Nummer nur spielen, was meine Mutter jetzt aber auch nicht wirklich überraschen würde. Die Situation scheint ihr völlig unwirklich, diese Wohnung, die so aussieht, als habe man ein Foto von ihrer zusammengeknüllt, Kaffee darübergeschüttet und mit Fettfingern wieder glatt gestrichen, wie ein Traum, ganz am Anfang der Nacht, wenn man sich noch hellwach glaubt, bis man plötzlich wie von einem Sturz aus großer Höhe aufschreckt. Und genau das tut meine Mutter in diesem Augenblick, fährt richtig zusammen, als sich mit einem Mal die Pranke auf ihre Schultern legt. Wieder riecht sie die Fahne, während der riesige Kerl etwas in den Raum ruft. Köpfe drehen sich zu ihr um. Das Mädchen auf dem Sessel kichert.
    Er stellt sein Glas auf dem Fernseher ab und nimmt die zweite Pranke dazu, schiebt meine Mutter mit beiden Armen vorwärts.
    »Verzeihen Sie bitte die Störung«, sagt sie, weil sie das Gefühl hat, jetzt dran zu sein. Aber niemand reagiert.
    »Verzeihung«, wiederholt sie und fragt sich, warum sie sich eigentlich dauernd entschuldigt.
    »What?«, ruft es von der Matratze. Der schwarze Kopf taucht wieder auf. An dem Hals darunter erkennt meine Mutter das alte Mädchen von vorhin.
    »Entschuldigung«, versucht sie es ein drittes Mal, »ich wollte Sie nur bitten, vielleicht etwas  … «, aber das Ende des Satzes schafft es nicht mehr, sich an die Oberfläche zu hangeln. Als sei mit einem Mal das Seil gerissen, stürzen die Worte von der Zungenspitze, rutschen zurück in die Tiefe, während sich in dem Spalt zwischen Sofa und Tisch unübersehbar etwas bewegt. Die Haarstoppel schieben sich an der Lehne entlang. Dann blitzen seine Augen

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