Fünf Kopeken
irgendwelche Freunde, die sich ein paar Mark dazuverdienen wollen und ein bisschen was klimpern können.«
»Was klimpern?«, rief meine Großmutter und griff sich an die Brust. »Das ist eine Hochzeit, nicht die Betriebsfeier der Stadtsparkasse! Da verlassen wir uns doch nicht auf Laien!«
Mein Großvater rollte die Augen. »Dann suchen wir uns halt irgendjemand anderen.« Er rammte die Gabel in seinen Braten, zog die ganze Scheibe auf einmal nach oben und riss sich ein Stück davon mit den Zähnen ab.
»Na du hast leicht reden!«, rief meine Großmutter, »hast du eine Ahnung, wie schwer es ist, so kurzfristig anständige Musiker zu finden?«
»Wieso denn jetzt kurzfristig? Ist doch noch ewig hin.«
Meine Mutter schluckte wieder, aber das Knödelstück wollte nicht nach unten rutschen. Wie ein Pfropfen saß es am Eingang ihres Halses und rührte sich nicht, während sie angestrengt versuchte, durch die Nase zu atmen.
»Ich möchte halt, dass alles perfekt ist! Wie oft im Leben hat man schon die Chance, dabei zu sein, wenn das einzige Kind vor den Traualtar tritt?«
»Wie jetzt Altar?« Die Bratenscheibe fiel zurück auf den Teller. »Wir schmeißen doch nicht irgend so nem Pfaffen Geld in den Rachen, dafür dass er einmal Vater unser brabbelt. Das Kind tritt vor niemanden außer einen Standesbeamten. Dass das klar ist.«
»Was? Keine Kirche?«, schrie meine Großmutter und tastete nach dem Inhalator, den sie wie zu Beginn jeder Mahlzeit unübersehbar auf dem Tisch platziert hatte. »Was soll das denn für eine Hochzeit sein ohne Kirche? Das ist doch überhaupt nicht festlich!«
»Natürlich wird das festlich! Da muss man sich halt was einfallen lassen. Bisschen dekorieren. Paar Blümchen. Dann kriegt das schon Pepp.«
»Und wer soll sich um das alles bitte kümmern?«, kreischte meine Großmutter über die bereits an ihren Lippen sitzende Mündung hinweg wie ein Säufer über seine Bierflasche.
»Mein Gott, Hilde, jetzt mach doch nicht so einen Wind! Was hast du denn sonst schon groß zu tun?«
»Was ich zu tun hab?« Meine Großmutter drückte endlich ab.
Die Hand meines Großvaters klatschte auf den Tisch. »Herrje, wenn’s dir zu viel ist, lässt’ es halt bleiben. Glaub nur nicht, dass hier alles zusammenbricht, nur weil du von en bissel Schleifchenbinden einen Schwächeanfall kriegst!«
»Ach ja?«, schrie meine Großmutter, »ach ja? Dann mach doch deine eigene Hochzeit!« Sie riss den Mund auf und hustete über die gefüllten Schüsseln, in die Teller hinein, endlich doch in die hohle Hand, wollte sich schon einen zweiten Schuss versetzen, als ihr vor lauter Aufregung der Inhalator aus den Fingern glitt.
»Natürlich wollen wir deine Hilfe, Hilde«, sagte Arno und lächelte, während er über meine Mutter hinweg aus der Bank kletterte und dem Plastikfläschchen nachlief.
Nein, lächeln tat er eigentlich schon, seitdem mein Großvater das Wort »Hochzeit« in den Mund genommen hatte.
Nein, lächeln tat er sogar schon, seitdem meine Mutter am Tag zuvor die »Liebe«, endlich, endlich die Liebe in den Mund genommen und ihn damit überglücklich gemacht hatte.
»Nicht über glücklich, sondern über glücklich«, wie sie mir zur Sicherheit noch mal erklärte, »so wie über trieben, über zogen, über mäßig , verstehste?«, sie schüttelte den Kopf, »so musst du dir das denken.«
Ich nickte folgsam, aber wir waren schon wieder in die Phase eingetreten, in der meine Reaktionen keine Rolle spielten, in der sie das Unverständnis einfach als gegeben voraussetzte, wahrscheinlich weil sie sich selbst so wenig verstand. Als habe sie ein bockiges Kind vor sich, schwang sie den Arm nach oben und ließ die Finger aus der Faust schnalzen, während sie im Militärstakkato Arnos Strafregister vortrug: das ewige Auf-die-Wange-Küssen, Hüfte Kitzeln, Knuddeln, Tuscheln, ihr durchs Haar-Wuscheln-Müssen, wann immer sie sich auf Armlänge näherte; das Atmen, dieses die ganze Welt umarmen wollende, himmelhochjauchzende, die Last des Lebens von sich werfende Aaaaaaaatmen, das ihm die Brust blähte und den Körper streckte, als würde er über den Boden schweben; die Gier, es nicht mal dabei bewenden lassen zu können, sondern jedwede Situation mit immer noch mehr Glück füllen zu müssen, ach, wie toll, wir haben ja doch noch Milch!, ach wie schön, die Sonne scheint!, du hast schon die Zeitung geholt? Ach wie lieb von dir!, bis er sich mit seinem Freudentaumel in so schwindelerregende Höhen schraubte,
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