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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Stricker
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Restaurants?«
    Alex stößt die Luft durch die Nase. »Nein, das nun wirklich nicht, sie macht nur den Abwasch.« Seine Finger schieben sich halb über den Mund. »Früher war sie Tänzerin, lang, lang ist’s her, aber sie glaubt noch immer, dass jeden Moment einer durch die Tür kommt und sie zurück auf die Bühne holt.« Er hebt den Kopf, seine Wangenknochen drücken sich durch die glatte Haut. »Stimmt’s, Nadja?«
    Meine Mutter folgt seinem Blick, sieht, wie sich der Mund der alten Frau wie eine verwelkte Rose kräuselt.
    »Das mag sie gar nicht, unsere Nadja, wenn man über sie redet und sie einen nicht versteht, hab ich recht?«, ruft er und nickt ihr zu.
    Die alte Frau ruft etwas zurück. Ihre Stimme überschlägt sich, so schnell redet sie. Es ratscht und knackt und knistert, als würde jemand ein Bündel Reisig abfackeln. Oder vielleicht brennt auch wirklich irgendwo etwas, so genau kann meine Mutter das nicht sagen. Die Bilder und Geräusche kommen mit unterschiedlicher Geschwindigkeit bei ihr an, die einen rasend schnell, die anderen mit sekundenlanger Verspätung. Dann sieht sie die alte Frau auf sich zukommen, die goldenen Sandalen direkt voreinander setzend, als balanciere sie auf einem Seil, bis sie endlich direkt vor meiner Mutter stehenbleibt und graziös die Hand ausstreckt.
    »Nadeschda Andrejewna Ponomarjow«, sagt sie feierlich, als rufe sie gerade einen Staat aus. Sie legt die aufgescheuerten Fingerkuppen in die Hand meiner Mutter, holt Luft, bevor sie weiterspricht. Aber diesmal klingt es angestrengt, als bereite es ihr große Mühe, die Laute aus ihrem Rachen an die Oberfläche zu drücken: »Nix glauben alle, was sagen Sanja.« Sie setzt den Zeigefinger an die Schläfe und dreht ihn hin und her, als wolle sie ein Loch hineinbohren.
    Alex steht auf und legt den Arm um die Kittelhüfte. »Ich hab ihr nur erzählt, was für eine große Tänzerin sie vor sich hat«, sagt er, und das scheint die alte Frau zu verstehen. Als müsse sie eine Horde Fotografen abwehren, streckt sie die Handflächen aus, winkt ab, deutet endlich doch eine kokette Verbeugung an. Sie fasst sich an den Hals, braucht eine Weile, bis sie bereit ist, sich von ihren imaginären Bewunderern ab- und stattdessen wieder meiner Mutter zuzuwenden. »Wie lange, du und Sanja schon?«, fragt sie und zeigt von einem zum andern.
    Meine Mutter folgt ihrer Hand, die sogar noch mitgenommener aussieht, als sie sich anfühlt. Einen Augenblick ist sie fast neidisch auf Nadjas Sprachlücken, in denen das, was sie und Alex sind, einfach verschwindet.
    Wie schön muss es sein, wenn einem die Worte schlichtweg fehlen, wenn man sich mit einem kurzen Fingerzeig begnügen darf, schießt es ihr durch den Kopf, während sie nach einer Antwort sucht.
    Aber Alex kommt ihr zuvor. Keine Sekunde muss er nachdenken, bevor die dunklen Laute aus seinem Mund rollen, drei Silben, vielleicht vier, als brauche es nicht mehr, um alles zu erklären.
    Nadja nickt. Fast wirkt sie beeindruckt, wie sie so die Unterlippe nach vorne schiebt und sich erneut zu meiner Mutter dreht. »Und wie ihr treffen?«
    Der Putzeimer quietscht wieder.
    Meine Mutter wirft Alex einen fragenden Blick zu, aber diesmal macht er keinerlei Anstalten, ihr beizuspringen. Halb erwartungsvoll, halb vergnügt sieht er sie an und stützt das Kinn in die Hand, während meine Mutter an ihren Nagelhäutchen zupft.
    »Bei der Arbeit«, sagt sie endlich, warum weiß sie selbst nicht, vielleicht, weil sich die Katzenaugen in der U-Bahn jeder halbwegs sinnvollen Erzählung widersetzen. Vielleicht, weil sie fürchtet, eine ehrliche Antwort könne sofort andere ehrliche Antworten nach sich ziehen wie eine Laufmasche. Vielleicht, weil ihr das Lügen schlichtweg zur Gewohnheit geworden ist.
    Nadja runzelt die Stirn. »Hier?«
    »Nein, äh, bei meiner Arbeit«, sagt meine Mutter.
    »Ah, was dein Arbeit?«
    Meine Mutter denkt an den Laden, an die Uni. Aber beide Orte passen so wenig zu Alex, dass ihr beim besten Willen kein glaubhaftes Kennenlern-Szenario einfällt.
    »Frisöse«, stammelt sie endlich, »ich bin Frisöse.«
    Die alte Frau schaut sie verständnislos an, dreht sich zu Alex. Aber dessen Augen bleiben nur amüsiert auf meiner Mutter liegen.
    Sie fasst sich an den Kopf, nimmt eine Strähne zwischen Zeige- und Mittelfinger und klappt sie wie eine Schere auf und zu. »Ich äh, ich hab ihm die Haare geschnitten und, also, dabei sind wir ins Quatschen gekommen.« Ihr Daumennagel stößt gegen ihre

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