Fünf Kopeken
Gesicht darunter. »The fucking neighbour is here!«
Ihr Blick fährt über die Töpfe hinweg, an den Bergen von Fleisch und Gemüse vorbei, bleibt an einem anderen Gesicht hängen, das ihr sofort bekannt vorkommt, auch wenn es einen Moment dauert, bis sie merkt, dass es das alte Mädchen ist, so anders sieht sie aus, ganz ohne Schminke, geradezu nackt, dabei hat sie diesmal im Vergleich zum letzen Mal richtig viel an. Weiße Hosen, weißer Kittel, weiße Haube, auch das wie im Krankenhaus. Nur vor dem Bauch trägt sie eine rotkarierte Schürze, die über und über mit Mehl bestäubt ist.
Ein asiatisch aussehender Junge, ebenfalls mit Fliege und Weste, drückt sich an meiner Mutter vorbei. Er blinzelt ihr zu, sagt irgendetwas, was für allgemeines Gelächter sorgt.
Das alte Mädchen zieht den Pfannenwender unter den Sardinen hervor, die vor ihr auf dem Herd brutzeln, hebt ihn in die Luft, als wolle sie ihn damit verprügeln, während sie irgendetwas kreischt, von dem meine Mutter wieder nur das »Sascha!« am Ende versteht. Alex ruft etwas zurück, aber auch diesmal hat seine Stimme nicht die geringste Ähnlichkeit mit der, die er für sie benutzt, so tief und laut und voll klingt sie.
Er geht zum Waschbecken und deutet auf einen Trittschemel daneben. Auf den Stufen zeichnen sich die Abdrücke unzähliger Schuhe ab.
Meine Mutter zieht ihr Kleid um den Po herum zusammen, lässt sich vorsichtig auf die Kante nieder. Von der Spülmaschine lächelt ihr eine ältere Frau zu, einen hellblauen Kittel auf den schmalen Schultern, wie ihn Klofrauen tragen, ein Haarnetz auf dem Kopf. Nur ihre Füße stecken in hochhackigen, goldenen Sandalen, deren über Kreuz geschnürte Riemchen ihr bis zu den Knien reichen.
Alex schiebt meiner Mutter die Pfanne auf den Schoß, stellt Glas und Flasche neben sie auf den Boden ab, wendet sich schon zum Gehen.
»Bleibst du nicht bei mir?«, ruft sie erschrocken.
Er hält in der Bewegung inne, schaut sie an, jetzt wieder von oben herab und diesmal wirklich von oben herab, mehr von oben herab geht gar nicht. Seine Augen laufen auseinander wie Eidotter.
»Willst du denn, dass ich bleibe?«, fragt er ganz ruhig, als sei das tatsächlich eine Frage.
Die Oberschenkel meiner Mutter werden warm unter der Pfanne. Sie krallt sich am Sitz fest, hat wieder das Gefühl, getestet zu werden, eine Situation, die sie, die ewige Einserschülerin, ja sonst eigentlich durchaus genießt. Aber anders als in der Schule oder an der Uni oder auch einfach nur bei meinem Großvater hat sie diesmal nicht die leiseste Ahnung, welche Antwort von ihr erwartet wird.
»Ja«, sagt sie endlich.
Alex nickt zufrieden. »Gut, dann bleibe ich.«
Er murmelt etwas zum Waschbecken hin. Die Frau mit den Riemchensandalen taucht hinter einem Regal ab, kommt mit einem dunkelblauen Putzeimer zurück. Er nimmt ihn ihr ab und stellt ihn kopfüber neben den Trittschemel. Das Plastik ächzt, als er sich setzt.
So leicht ist das also, ich muss einfach nur sagen, was ich will, und schon bekomme ich es, denkt meine Mutter verblüfft, während er über sie hinweg in die Pfanne greift.
Ein Stück Blutwurst verschwindet zwischen seinen Lippen, über die ein fast spitzbübisches, nein, nicht fast, über die ein extrem spitzbübisches, aber das Wort passt so gar nicht zu ihm, ein schelmisches, listiges, vielleicht auch einfach nur ein böses Lächeln huscht. »Iss!«, sagt er.
Meine Mutter beugt sich nach vorne, merkt erst jetzt, dass ihr irgendwo unterwegs die Gabel abhandengekommen ist. Ihr Blick fährt suchend umher, während sie versucht, sich den Weg vom Tisch bis hierher ins Gedächtnis zu rufen, sie hat doch gar nichts angefasst, oder doch?, hat sie sie etwa gar nicht mitgenommen? Aber es gelingt ihr nicht, sich in die Vergangenheit zu denken, selbst die zwei, drei Minuten zurück scheinen unerreichbar, so riesengroß türmt sich die Gegenwart vor ihr auf, zieht alle Aufmerksamkeit auf sich, sodass sie endlich aufgibt und ebenfalls mit Daumen und Zeigefinger in die Pfanne piekt.
Er grinst vergnügt, während er mit vollen Backen kaut. Seine Hand kommt auf sie zu, streift, vielleicht, vielleicht auch nicht, vielleicht doch ihr Knie, packt dann aber doch die Flasche und schenkt ihr wieder ein.
Meine Mutter setzt das Glas an die Lippen, leert es in einem Zug. Sie hört etwas zu Boden fallen, dann die Stimme der alten Frau.
»Sie heißt dich willkommen«, sagt er.
Meine Mutter schaut zu dem Kittel. »Ist sie die Besitzerin des
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