Fünf Kopeken
gleich ein Sputnik-Modell an die Decke. Aufgeregt rannte sie durchs Kinderzimmer, ließ da eine Bananenschale aus dem Mülleimer hängen, »hat’s die bei euch eigentlich auch nicht gegeben?«, warf dort eine Häkeldecke aufs Bett, damit Anna auch nicht kalt würde, auch wenn die Temperaturen hierzulande im Vergleich zu denen bei ihm zu Hause wohl ein Witz seien, was?, hakte immer mehr Ösen und Schlaufen an, auf dass Alex sich noch einmal darin verfangen würde.
Aber der nickte nur wieder, offenbar nicht gewillt, selbst etwas zu der Unterhaltung beizutragen. Erst als meine Mutter Anna eine Schere in die Hand drückte, mit der die, jetzt in ihrer Ritter-Phase, ein Loch in ebenjene Häkeldecke schnitt, sagte er: »Toll! Phantasie ist echt wichtig!«
»Ach wirklich?«, fragte meine Mutter erstaunt.
»Klar, wie soll man es denn sonst aushalten in dieser Welt?«
»Ja, äh, schon. Ich frag mich nur manchmal, was aus dem Kind werden soll«, sagte meine Mutter, sei es, weil ihr nichts anderes einfiel, sei es, weil sie beim Versuch, eine Mutter zu mimen, notgedrungen auf meine Großmutter zurückgreifen musste, die außer Sorge eben keine sonderlich große Palette an Handlungsmodellen bot, »wie soll sie denn von all den Flausen im Kopf mal ihre Miete zahlen?«
»Wieso denn Flausen? Wer sagt denn, dass sich mit diesen Geschichten nichts anstellen lässt? Am Ende wird sie eine berühmte Schriftstellerin und macht mehr Geld, als du dir in deinem Frisörsalon träumen lassen kannst.«
»Hast du ne Ahnung!«, rief meine Mutter, selbst um sich eine fiktive Karriere von einer fiktiven Tochter schmälern zu lassen noch zu stolz, »jetzt mag dieses Rumgespinne ja ganz nett sein, aber welcher klar denkende Mensch würde denn sein Leben auf irgendwelchem erfundenen Zeugs aufbauen? Wenn sie wirklich schreiben will, soll sie meinetwegen Journalistin werden, da bleibt sie wenigstens bei der Wahrheit! Aber Schriftstellerin … «
»Nur weil etwas erfunden ist, heißt es doch nicht, dass es nicht wahr ist«, fiel ihr Alex ins Wort.
Meine Mutter schüttelte verwirrt den Kopf. »Natürlich heißt es das«, erwiderte sie.
Alex grinste. »Wahrscheinlich hat sie das mit der Phantasie eher von ihrem Vater geerbt, he?«, sagte er, und dabei zog er den Mundwinkel so hoch, dass meine Mutter ihr e /seine Anna kurzerhand auf einen Schuppen kraxeln und, sich einbildend, ein Vogel zu sein, mit mehreren Knochenbrüchen im Krankenhaus landen ließ, nur um sich selbst zu beweisen, dass er nicht recht hatte.
Erst als sie am Abend, selbst mit wunden Knochen, nach Hause kam, merkte sie, dass sich ihr wahres Leben tatsächlich immer unwirklicher anfühlte. Sie tat so, als würde sie sich freuen, meinen Vater zu sehen, tat so, als würde sie ihn küssen, als würde sie sich mit ihm über die Hochzeit unterhalten, während ihre Lippen Worte formten, die sie nicht hörte. Sie tat so, als würde sie das Geschirr spülen, als würde sie ins Bad gehen und ihre Zähne putzen, die schmutzig waren und schmutzig blieben, von dem fremden Mann, der in ihrem Mund gekommen war und dessen Geschmack sich nicht abwaschen ließ. Sie tat so, als zöge sie sich aus, als sei sie nackt vor ihm, als sei das sie, die sich neben ihn ins Bett legte. Und dann tat sie so, als würde sie es mit ihm tun.
In der Uni war es nicht viel besser. Sie kam sich vor, als sei sie eine Schaupielerin, als gebe sie nur vor, zu lernen, sich Notizen zu machen, der Vorlesung zu folgen – sofern sie denn überhaupt noch hinging. Der Platz in der ersten Reihe blieb so oft frei, dass die Professoren schon bei ihr zu Hause anriefen, um nachzuforschen, wo ihre Musterschülerin steckte.
»Im Laden«, sagte meine Mutter, leider, sie stünden kurz vor dem Bankrott.
»In der Uni«, sagte sie zu meinen Großeltern, leider, sie stünde nun eben kurz vorm Examen.
»Bei meinen Eltern«, sagte sie zu Babsi, leider, die stünden mal wieder kurz vorm Kollaps.
Aber die Wahrheit war, dass sie die meiste Zeit nicht nur nicht da war, wo sie sein sollte, sondern auch nicht bei ihm. Stattdessen kauerte sie auf dem Fensterbrett, die Stirn an die Scheibe gedrückt, und wartete. Wartete, dass er nach Hause käme. Wartete, dass er schlafen ginge, wartete, dass er wieder aufstehen würde, dass genug Zeit vergangen sei, um hinaufzulaufen und nachzusehen, ob die Frau aus der Fensterscheibe noch da war.
In ihrer Erinnerung waren es nur ein paar Tage, in denen das so ging, in denen sie ihrem Alltag den Rücken
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