Fünf Kopeken
eine ganze Beziehung, mit einer Nebenbuhlerin, die sie auseinanderbringen wollte, Schreikrämpfen, Türenschlagen und schließlich Annas verweinter Stimme am Telefon, die meine Mutter anflehte, sofort vorbeizukommen, sofort!, sodass ihr nicht mal Zeit geblieben sei, einen Zettel zu schreiben, nicht böse sein, ja?
Mein armer Vater glaubte ihr natürlich. Schämte sich sogar ein bisschen für die Vorwürfe, die er ihr gar nicht gemacht hatte. Und als meine Mutter das nächste Mal Romão beim Sardellenausnehmen zusah, bekam auch der Frisörsalon seine Anna, eine Stammkundin, die sich die Haare »ausnahmslos« von ihr schneiden ließ, Bubikopf, Naturwelle, schwer zu bändigen, angehende Medizinerin, forsche gerade über die Identifizierung von HMGA 2 interagierenden Proteinen, was auch immer das bedeuten möge, haha, von so was versteh ich ja nichts.
Am meisten Zeit und Energie widmete meine Mutter jedoch der ersten Anna. Wenn auch nicht ganz freiwillig. Vielmehr war es so, dass Alex sich aus unerfindlichen Gründen brennend für ihre Tochter zu interessieren schien. Jedes Mal, wenn meine Mutter vor seiner Tür auftauchte, fragte er sie als erstes, wo denn Anna sei. Ob es ihr gut ginge. Ob sie sie auch nicht allein zu Hause gelassen habe, »nicht, dass sie Angst kriegt!«
Angst? In Kasan haben sie jeden, der ihnen zu langsam war, in ein Kellerloch zu den Ratten geworfen und so lange da hocken lassen, bis es angefangen hat zu stinken, das nenn ich Angst, schoss es meiner Mutter in den Kopf, während sie »nein, nein, die ist den Nachmittag über bei Oma und Opa« murmelte.
Manchmal ließ sie Anna auch eine Freundin besuchen, von denen sie einen ganzen Stall voll hatte, ja, ja, richtig beliebt sei sie, ständig rufe eine andere an und wolle, dass sie vorbeikomme, wenn meine Mutter Alex erst abends erwischte, auch über Nacht bleibe, sodass ihr gar nicht auffalle, dass ihre, also, meine Mutter so viel außer Haus sei.
Aber auch wenn Alex’ Bedenken solcherart ausgeräumt waren, ließ er sich nicht erweichen, sich an ihren Knöpfen zu schaffen zu machen, bis sie ihn mit ein paar Geschichten gefüttert hatte.
»Was willst du denn wissen?«
»Keine Ahnung«, sagte er, »was du willst«, und, jetzt plötzlich seinerseits in der Position, ihr auf die Sprünge helfen zu müssen, »was macht sie denn so?«, »was sagt sie denn so?«, »ist sie so wie du?«
Wie bin ich denn?, wollte meine Mutter wieder fragen, murmelte dann aber doch »äh, nett.«
Alex runzelte die Stirn. »Nett?«
»Ja, also … , nicht einfach nett nett. Was ich meine, ist, dass, also, alle mögen sie eben.«
Die Stirn knitterte noch mehr. »Ach, ist sie so eine Hübsche, mit der alle befreundet sein wollen?«
»Nicht doch!«, rief meine Mutter, dann, weil ihr das doch eine etwas zu harte Reaktion zu sein schien, »also, äh, natürlich ist sie hübsch, aber jetzt halt auch nicht so … «
»Was ist es denn dann?«, forschte Alex beharrlich weiter, »ist sie super schlau, oder so?«
Als sei das etwas, das Menschen besonders anzöge, dachte meine Mutter bitter. Sie zwirbelte eine Strähne um den Finger, zog an den Haarwurzeln. »Also, sie ist halt so jemand, also, ihr fällt einfach immer was ein«, fiel ihr endlich ein.
»Spiele und so?«
»Ja, auch. Aber ich mein eher so, also, sie kommt einfach mit den dollsten Geschichten an, weißt du?«
Alex nickte, als wisse er das wirklich, als sei das tatsächlich die einzig überzeugende Antwort.
»Ja genau«, erwiderte meine Mutter glücklich, »sie bastelt sich die Welt einfach so zurecht, wie sie will, denkt sich allen möglichen Kram aus.«
»Was denn so?«
»Äh, neulich hat sie mal eine Woche so getan, als sei sie, als, als sei sie eine Prinzessin und hat nur geantwortet, wenn wir sie mit Eure Hoheit angesprochen haben.«
Alex nickte erneut, stützte das Kinn in die Handfläche.
»Und ein andermal«, fuhr meine Mutter fort, »ein andermal hat sie die Couchgarnitur zum Shuttle erklärt und so getan, als sei sie Astronautin.«
»Echt?«, rief er und riss die gelben Augen auf, »als ich ein kleiner Junge war, wollte ich auch Astronaut werden«, was jetzt, geht man mal davon aus, dass Alex in etwa im Alter meiner Mutter war und seine Kleine-Jungen-Zeit damit ziemlich genau in die Phase der ersten bemannten Mondflüge fällt, auch nicht sooo überraschend ist. Aber von solchen Feinheiten ließ sich meine Mutter ihre Begeisterung nicht vermiesen.
»Irre!«, rief sie und hängte Anna auch
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