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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Stricker
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Dima schaut, »ohne mich wären die noch immer aufm Bau.« Das alte Mädchen rutscht ganz auf seinen Schoß und schaut meine Mutter und dann ihn und dann wieder meine Mutter so böse an, dass er ihr die letzten paar Sätze schnell auf Englisch nacherzählt. Woraufhin sie das Ganze anscheinend Nadja ins Russische übersetzt, die offenbar ihre Mutter ist. Oder vielleicht auch ihre Tante.
    Das Sprachengewirr rauscht in den Ohren meiner Mutter, fast beruhigend, wie Verkehrslärm oder ein nebenher laufender Fernseher.
    Dann steht sie plötzlich auf der Straße, sieht wieder die Lichtpunkte hinter den Gardinen, als würde er sie aus allen Ecken auf einmal anstarren.
    Noch oder schon wieder singend stolpert sie inmitten der johlenden Menge den Bordstein entlang. Der Wodka schwappt auf ihre Brust. Sie sieht die rosa Zunge, die das Gesicht des alten Mädchens abschleckt, dann die Schlange vorm Dönerstand, die in zwei reißt, »so vor allen Leuten, keinen Funken Anstand!«
    »What do you care!«, hört sie Romão brüllen, dann ihre eigene Stimme, mit der gleichen ungebremsten Wucht wie vorhin, »kümmer disch efällischt um deinen eignen Schschschscheiß!«
    »Aber, das muss doch nicht sein«, kommt es von hinten, »in aller Öffentlichkeit.«
    Meine Mutter fliegt herum. »Wiescho denn nisch?«, kreischt sie. »Isch ja woll nisch vaboten!«
    Sie spürt, wie der Boden wieder zu schwanken beginnt, sieht die Pflastersteine auf sich zustürzen. Seine Hand legt sich auf ihre, quetscht ihre Finger in seiner Faust zusammen, während er sie hinter sich herzieht.
    »Hey, Dschid!«, brüllt Dima.
    Alex ruft etwas zurück, wird noch schneller.
    Meine Mutter hebt den Kopf, versucht die Augen zu öffnen. »Ist das auch eine Kurzform für Alexander, Dschid ?«
    Aus Alex’ Hals rollt ein böses Lachen nach oben. »Nein, wirklich nicht.«
    Meine Mutter zieht wieder an ihren Lidern, schafft es endlich, sie ein paar Sekunden lang oben zu halten. »Waschn dann?«
    Alex fährt sich über den Kopf. »So was wie Nigger für Juden«, sagt er, lacht noch mehr, während, nein, weil meine Mutter wieder knallrot anläuft. Er stubst Romão an, der sie gerade überholt, das alte Mädchen loslässt, um den Schlüssel aus der Gesäßtasche zu kramen. Erst jetzt merkt sie, dass sie vor ihrem Haus stehen.
    »You coming?«
    »In one minute«, antwortet Alex, und auf Englisch hört er sich plötzlich unheimlich Russisch an. Die Silben splittern auseinander, als würde er mit dem Hackebeil darauf eindreschen.
    Die andern torkeln an ihnen vorbei, verschwinden im Hauseingang.
    Die Faust um ihre Finger wird noch enger, während ihr Rücken über den Putz kratzt.
    »Nein, so was gab’s nicht in der Sowjetunion«, reißt seine Stimme sie plötzlich aus dem Schlaf, hat sie wirklich geschlafen?, wie kann sie denn geschlafen haben?
    Sie merkt, dass sie eine Frage gestellt haben muss, fasst sich an die Stirn, als könnten die Worte da noch herumliegen, aber er fährt schon fort: »Mein Großvater hat zu Hause nur Jiddisch mit uns gesprochen, da war’s dann nicht mehr schwer zu lernen.«
    »Ah«, sagt sie und nickt so heftig, dass er sie festhalten muss. Oder vielleicht hält er sie auch nur so fest. Durch den Spalt in ihren Augen, der noch sieht, erkennt sie sein Gesicht, das sich von seinem Hals losreißt, auf sie zukommt, plötzlich einen Zentimeter von ihrem Mund entfernt stehen bleibt. Sie fühlt den Fellkragen an ihrer Wange, sieht seine Lippen, die immer größer werden, bis sie den Platz zwischen ihren Lidern völlig ausfüllen. Und dann küsst er sie oder sie ihn, das weiß sie nicht genau. Und das ist vielleicht das Schönste. Seine Augen fahren ihr in den Magen, streichen ihn von innen mit Butter aus, während seine Lippen auf ihren und ihre auf seinen und seine Zunge und ihre Zunge und seine Hände und ihre Haut auf seiner Haut  …
    Meine Mutter stolpert vom Treppenvorsatz, auf dem sie plötzlich steht, also stand, fällt ihm in die Arme.
    »Du zuerst«, sagt er und drückt sie von seiner Brust weg.
    Meine Mutter nickt wieder. Angestrengt bemüht, nicht betrunken auszusehen, was sehr betrunken aussieht, geht sie zur Tür und wühlt in ihrer Tasche. Schaut über ihre Schulter, hofft, dass er noch etwas sagt, noch etwas tut, dass er noch etwas von ihr will. Aber er scheint wie immer gar nichts zu wollen. Mit gewohnt ausdruckslosem Gesichtsausdruck schaut er vor sich hin, während sie durch den Hof läuft, nach oben steigt, die Tür aufschließt.
    Sie

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