Fünf Kopeken
schlüpft aus den Schuhen, tapst auf Zehenspitzen den Flur entlang. Geht ins Arbeitszimmer. Klettert auf den Schreibtisch. Sie schaut aus dem Fenster, sieht den schwarzen Innenhof, das Licht im Vorderhaus, endlich ihn, eine Zigarette im Mund, von der sein Gesicht rötlich schimmert.
Ihre Finger greifen so schnell nach dem Saum ihres Kleides, dass ihr keine Chance bleibt, sie aufzuhalten. Die Nähte stöhnen, während sie es hektisch vom Kopf reißt. Sie zerrt die Strumpfhose von den Beinen, klackt den BH auf, schiebt die Unterhose auf die Knie. Ihre Brust stößt gegen den Fenstergriff. Sie sieht, wie er neben den Mülltonnen stehen bleibt, den Kopf in den Nacken legt, als würde er die Sterne betrachten, wie seine Augen ihren Fingern folgen, sich in ihren Schamhaaren verheddern, endlich in sie hineinfahren. Wie eine erschlagene Fliege klatscht ihr Körper gegen das Fenster. Ein Spuckefaden zieht sich zwischen ihren auseinandergebogenen Lippen nach unten, während sie immer weiter nach draußen schaut, ihn noch näher kommen sieht, und dann plötzlich ihre eigenen Augen, die sie anstarren, so entsetzt, über das, was sie da tut, dass sie sich diesmal selbst in die freie Hand beißt, um den Schrei zu unterdrücken. Aber das wird sie erst merken, als mein Vater am nächsten Tag erschrocken über das getrocknete Blut streicht und sie schnell »irgendso ne Dogge« beschuldigt, »an der Haltestelle. Hat vor Übermut einfach nach mir geschnappt.«
»Da kannst du ja froh sei, dass die Hand nicht ganz ab ist«, wird er rufen, und sie »war ja nicht ernst. Sie wollte doch nur spielen«, bevor sie zu einer weiteren Verabredung mit Wedekind die Treppe runter und zwei Minuten später wieder hochrennen wird, damit Alex vollenden kann, was seine Augen begonnen haben.
14. Kapitel
So viel Sorgfalt mein Großvater auch darauf verwendet hatte, meine Mutter auf Begabungen abzuklopfen, ihr größtes Talent war ihm entgangen: das Lügen. Sie konnte selbst kaum glauben, wie gut sie darin war. Und das, obwohl sie ihr Potential so lange hatte brach liegen lassen. Umso eiliger hatte sie es jetzt, ihre Fähigkeiten auf die Probe zu stellen, auszutesten, wie viele Lügen sie auf einmal stemmen könnte, ohne darunter zusammenzubrechen. Unnötig zu sagen: Viel, mehr, am meisten. Als gälte es auch diesmal wieder, ein Publikum zu beeindrucken, suchte sie sich immer größere Herausforderungen, log hier einen Satz an, ohne seinen Ausgang zu kennen, huschte da unter einer misstrauisch gehobenen Braue durch, erfand immer neue Handlungsstränge, bis sie so viele Fäden auf einmal in den Händen hielt, dass sich jeder darin verheddert hätte – jeder, außer meiner Mutter. Vor lauter Ehrgeiz begann sie sogar, die Lügen für meinen Vater, die für Alex und die für seine Freunde miteinander zu verschränken, versuchte ihre Welten so dicht nebeneinander herlaufen zu lassen, dass sie sich gerade so berührten, wie drei verschiedenfarbige Soßen auf einem Teller, in die man (also wohl eigentlich: in die Schnuckiputzi, woher sollten sich sonst plötzlich diese Kochassoziationen in die Geschichten meiner essfaulen Mutter stehlen?) vor dem Servieren mit einem Zahnstocher ein Marmormuster malt, sodass sich eine messerscharfe Linie von der einen Pfütze zur nächsten zieht, ohne dass sie ineinanderschwappen. Innerhalb weniger Tage entwickelte sich die ominöse Wedekind, »wie?, ich dachte das ist ein er «, »nein, nein, da musst du dich verhört haben, die Wedekind« so von der gesichtslosen Professorin zu einer möglichen Freundin, »zumindest soll die das glauben, sonst lässt sie ihre super Kontakte am Ende noch für jemand andern spielen!«, schließlich sogar zu einer weiteren Anna, »hab ich das nicht gesagt?, doch, doch, wir sind jetzt per du«, die für so ziemlich alles herhalten musste. An guten Tagen, wenn meine Mutter vergessen hatte, sich das Lächeln rechtzeitig von den Wangen zu wischen, hatte Anna ihre Arbeit gelobt, sie zum Essen eingeladen, ihr nicht nur einen Job, sondern auch gleich die Promotion in Aussicht gestellt. An schlechten Tagen ließ Anna sie bis zum Umfallen Quellen prüfen und war durch nichts zufrieden zu stellen. Dann, als meine Mutter eines Nachts erst weit nach Mitternacht nach Hause kam und Arnos aufgelöstes Gesicht zwischen den Kissen fand, geriet Anna plötzlich in Streit mit ihrem Mann, dem meine Mutter, immer mutiger oder auch einfach nur dreister werdend, auch gleich einen Namen gab: Alex. Sie erfand ihnen
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