Fünf Kopeken
zuwandte, in denen zum ersten Mal die Hoffnung in ihr keimte, vielleicht doch noch zu einem anderen Leben überlaufen zu können. In Wahrheit müssen es Wochen gewesen sein, Monate, die der Enttäuschung meines Vater über ihr ständiges Weglaufen, Wegbleiben, Weghören genug Zeit ließen, zur Verzweiflung zu reifen, in der die Sorgen meiner Großmutter über ihr seltsames Verhalten so laut wurden, dass selbst mein Großvater aufhorchte, in denen er sie mehrfach in sein Büro zitierte, um mal »ein Wörtchen«, dann auch »ein ernstes« mit ihr zu reden, und sie immer eine Ausrede fand, in denen sie endlich sogar das Richtfest des Outlet schwänzte, weil sie sich lieber oben gegens Stockbett nageln lassen wollte.
Aber diesmal war seine Matratze schon besetzt. Und auch auf der darüber lag schon jemand. Genauso wie auf dem Schlafzimmerboden und dem Wohnzimmerboden, man konnte kaum einen Schritt tun, ohne an einen Koffer oder irgendwelche Beine zu stoßen, die, wie Dima mit Händen und Füßen und auch ein ganz klein wenig Deutsch erklärte, seiner Familie gehörten, zwei Frauen, vier Männer, alle mit den gleichen quadratischen Schädeln, selbst der etwas kleinere, der offenbar Dimas Schwager und wohl nicht blutsverwandt war.
»Vielleicht morgen«, sagte Alex und sah tatsächlich fast bedauernd aus.
Aber als er am nächsten Tag den Tresor öffnete, schlug meiner Mutter das Gegröle schon im Flur entgegen. Und auch an dem darauf hockten Dimas Verwandte noch immer in ihren Schlafsacknestern und machten keinerlei Anstalten, die Wohnung zu verlassen.
»Too hot!«, stöhnte Dimas Mutter, »here more good«, und drehte sich sofort wieder zum Fernseher. Offenbar waren sie ganz begeistert davon, so weit von zu Hause noch immer russische Programme empfangen zu können. Die meiste Zeit taten sie nichts anderes, als auf den Bildschirm zu starren. Wenn es ihnen doch zu langweilig wurde, spielten die Männer Karten, und die beiden Frauen probierten ihre mitgebrachten Kleider an, stöckelten den Flur auf und ab, zuppelten vor dem Spiegel im Badezimmer aneinander herum, bis Dima nach Hause kam und sie ihm wie hungrige Wölfe die Tüten aus dem Restaurant entrissen.
»But this is Portuguese food! Have you already tried a real German Bratwurst?«, fragte meine Mutter, verzweifelt bemüht, sie irgendwie nach draußen zu locken, aber Alex erklärte ihr, das sei zu teuer.
»Allein für die Geschenke, die sie mitgebracht haben, sind wahrscheinlich schon zwei Monatsgehälter draufgegangen.«
»Was ist das nur mit Russen und Geschenken?«, fragte meine Mutter, und sofort besorgt, ihn kränken zu können, »ich mein nur, weil, also, weil auch Nadja so was gesagt hat.«
Alex zuckte die Schultern. »So ist das halt bei uns. Wenn man zu Besuch kommt, bringt man was mit. Und je wichtiger dir jemand ist, umso schöner das Geschenk. So weiß er, dass du ihn liebst, auch wenn du vielleicht mal eine Weile nicht in der Nähe bist.« Er schaute auf seine Zigarette, die wie immer zwischen seinen Fingern steckte. »Und dann mussten sie natürlich auch die Tickets kaufen. Für Tschatschkes ist da nichts übrig.«
Für das ganze Gesöff hat’s doch auch gereicht, dachte meine Mutter und ließ den Blick über die Flaschen schweifen, die zwischen den leergegessenen Aluschalen herumrollten, begnügte sich dann aber doch damit, »Du fehlst mir« zu sagen.
»Ich weiß«, sagte Alex.
»Wann seh ich dich denn wieder?«
Er drückte ein Auge zu. »Du siehst mich doch im Moment«, sagte er und zeigte ein paar Zähne.
»Nein, so richtig«, insistierte meine Mutter, »allein.«
Er schaute zu Boden, stieß mit der Zehenspitze gegen die Schuhe, von denen jetzt sogar noch mehr herumlagen.
Wie hält er das nur aus, einfach so abzuwarten und zu schweigen?, dachte sie, fast ein wenig beeindruckt, wie unbeeindruckt ihn ihre Anspannung ließ.
»Kann sein, dass sie am Wochenende tanzen gehen«, murmelte er schließlich.
»Also, soll ich am Freitag vorbeikommen?«
»Freitagabend muss ich arbeiten.«
»Dann Samstag?«
Er zuckte die Schultern. »Komm einfach vorbei, wenn du willst. Wenn’s nicht geht, geht’s halt nicht.«
»Ich, äh, ich hab immer Angst, dass mich jemand sieht«, sagte sie, »wenn ich ständig hier hochlaufe und nach ein paar Minuten zurückkomme, fällt es am Ende noch auf.« Sie suchte nach einem weiteren Argument, mit dem sie ihn dazu bringen könnte, ihr etwas Sicherheit zu geben, irgendetwas, an dem sie sich festhalten könnte. Aber
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