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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Stricker
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zu ihrer Überraschung tat er das auch so.
    »Dann ruf doch einfach an, bevor du kommst.« Er ging zum Telefontischchen, zog einen alten Briefumschlag hervor, fand einen Kugelschreiber. Die Mine drückte das Papier in seine hohle Hand, während er, immer wieder absetzend, um sie mit seinem Atem zu wärmen, etwas auf die Rückseite schrieb.
    Meine Mutter griff nach dem Umschlag und steckte ihn in die Gesäßtasche. »Danke. Mach ich«, sagte sie und rannte nach unten, an meinem Vater vorbei, der ihr aus dem Arbeitszimmer mit großen traurigen Augen »Ich warte!« zurief, während er sich so weit über den Schreibtisch beugte, dass die Platzkärtchen darauf zusammengedrückt wurden.
    »Gleich!«, rief sie zurück und rannte auf die Toilette. Schloss die Tür ab. Ließ sich auf den Deckel fallen, bevor sie endlich den Umschlag aus der Tasche zog und vorsichtig auseinanderfaltete, als könne die Nummer wieder abfallen, wenn sie ihn zu hart anfasste. Sie betrachtete die dunkelblauen Ziffern, seinen Namen darunter. Ihre Finger fuhren an der Schrift entlang, die den lateinischen Buchstaben noch misstraute, um das wacklige »A« herum, zu den beiden Achten, die sich zu einem »X« aneinanderschmiegten, wie man es in der Grundschule lernt. Selbst seine Zahlen wirkten fremd, als seien auch sie Teil einer anderen Sprache.
    Sie sagte sich die Nummer vor, wieder und wieder, bis sie sich sicher war, sie auswendig zu kennen. Dann zerriss sie das Papier und spülte die Fetzen die Toilette runter. Nur um fünf Minuten später doch zum Telefon zu laufen und heimlich die Nummer einzuspeichern. Für alle Fälle, wie meine Mutter sich sagte, die Mutter, die auch nach 30 Jahren noch immer die Postleitzahl der Stadt, in der sie eigentlich dieses Auslandspraktikum hätte machen sollen, kennen würde. Und selbst das war ihr noch nicht genug. »Anna«, tippte sie in das Namensfeld und freute sich so über ihre Unverfrorenheit, nein, besser: Chuzpe, dass sie ungeachtet meines Vaters, der mit noch weiteren Augen, dafür aber schon ganz dünner Stimme »aber wir wollten doch die Tischordnung festlegen« jammerte, ins Bett kroch, um in Ruhe Alex’ Gesicht hinter ihren Lidern betrachten zu können.
    24 Stunden schaffte sie es, nicht anzurufen. Nein, 24 Stunden schaffte sie es, immer wieder aufzulegen, bevor jemand abnahm. Dann antwortete er gleich nach dem ersten Klingeln, fast so, als habe er nur auf ihren Anruf gewartet, auch wenn er wie immer etwas verschlafen klang.
    »Hallo, ich bin’s«, sagte meine Mutter, die Bettdecke über dem Kopf, obwohl mein Vater bei der Arbeit war. Sie wartete ein paar Sekunden, bevor sie »äh, die Nachbarin« hinterherschob.
    »Ja, ich weiß.«
    »Ich wollte nur, also ich wollte fragen, ob sie, ob die Familie von deinem Mitbewohner noch da ist.«
    »Ja.«
    »Also, ich meinte, ob sie jetzt gerade da sind.«
    »Ja«, sagte er wieder.
    »Ach so«, sagte meine Mutter und spürte, wie ihre Zunge schwerer wurde, »dann geht’s also nicht bei dir?«
    »Nein.«
    »Und was, äh, was, wenn wir uns bei mir treffen?«
    »In dem Bett, in dem du mit deinem Mann schläfst?«, fragte er. »Nein, das könnte ich nicht.«
    Er atmete in ihr Ohr. Räusperte sich. Rief etwas auf Russisch. Aber niemand antwortete. Meine Mutter fragte sich, ob er sie womöglich anlog und Dimas Familie in Wahrheit doch nicht da war. Sie schob die Decke vom Kopf, lugte aus dem Fenster. Aber die Vorhänge auf seiner Seite waren zugezogen.
    »Wir könnten auch einfach weg«, sagte er plötzlich.
    Meine Mutter verkroch sich wieder in ihrer Höhle. »Wie, weg?«, flüsterte sie. »Wo willst du denn hin?«
    »Nirgendwo«, sagte er. »Kostet nur unnötig Geld. Lass uns einfach ein Hotel nehmen, hier in der Nähe. Was Billiges. Nur für eine Nacht.«
    »Okay?«, sagte sie, versuchte, es wie eine Frage klingen zu lassen, als müsse sie sich das erstmal überlegen, als brauche sie noch mehr Informationen, dabei konnte sie vor Aufregung kaum noch den Hörer ruhig halten.
    Er rief wieder etwas, und diesmal glaubte sie doch, einen Mann im Hintergrund zu hören. »Wie lange brauchst du, um was für Anna zu organisieren?«, murmelte er endlich.
    Zwei Minuten, wollte meine Mutter sagen. »Zwei Tage«, sagte sie.
    »Gut«, antwortete er, »ich kümmre mich um ein Hotel«, und legte auf, so unvermittelt, dass meine Mutter es noch minutenlang in ihr Ohr tuten ließ, bis sie endlich aufstand und das Telefon zurück in den Flur stellte.
    Noch zwei Tage, dachte sie und

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