Fünf Kopeken
suchen, die Schränke aufklappen, das Bad begutachten, die Finger in die Matratze drücken würden, um zu sehen, ob sie zu hart oder zu weich sei. Zum ersten Mal befänden sie sich beide auf ungewohntem Terrain, würden gemeinsam etwas Neues erkunden.
Aber tatsächlich kannte meine Mutter das Hotel, dessen Visitenkarte sie am nächsten Morgen im Briefkasten fand, schon ganz nervös, dass mein Vater vielleicht doch recht gehabt und der Vorschlag gar nicht ernst gemeint gewesen war, nur allzu gut. Keine zehn Minuten Fußweg von ihrer Wohnung war es entfernt und so schäbig, dass sie sich erst vor ein paar Wochen beim Vorbeigehen gefragt hatte, wer denn bitte an einem solchen Ort seinen Urlaub verbringen wolle.
Doch der ersten Enttäuschung blieb kaum ein halbes Stockwerk Zeit, an ihrer Vorfreude zu kratzen, schon entdeckte meine Mutter Alex’ Buchstaben auf der Rückseite. Er hatte mit Bleistift geschrieben, mitten in die Anschrift des Hotels, sodass man, also wahrscheinlich mein Vater, es auf den ersten Blick auch übersehen konnte. Aber wenn man genau schaute, ließ sich doch »Fr, 1 Uhr« entziffern – was, wie meiner Mutter sofort auffiel, bedeutete, dass sogar etwas weniger als 48 Stunden zwischen Telefonat und Treffen liegen würden.
Wahrscheinlich dürfen wir genau um 13:00 Uhr einchecken und er wollte keine Minute verschwenden, dachte sie. Und das so lang und hartnäckig, bis sie sich endlich derart freute, dass sie meinen noch immer schlafenden Vater vor Übermut mit einem Guten-Morgen-Kuss weckte.
Aber Arnos Ärger vom Vortag war noch nicht verflogen. »Ich hab noch nicht mal Zähne geputzt«, grummelte er und legte die Hand auf den Mund.
»Macht doch nichts«, rief meine Mutter und küsste ihn gleich noch mal auf den Handrücken. Sie drückte das Kinn an seine Fingerknöchel, blinkerte mit den Wimpern wie gestern in Babsis Flur. »Du hattest recht! Ich hätte diese Sache mit den USA sofort ablehnen sollen.«
Die schmalen Lippen zogen sich zusammen. »Ja, hättest du«, sagte Arno und versuchte einen strengen Blick. Aber meine Mutter schlang nur ihre Arme um seine Hüfte und flüsterte »ich weiß, die letzte Zeit war schwierig, aber jetzt wird alles besser«, »ganz bestimmt«, schließlich, »was hältst du davon, wenn ich heute erst mittags in die Uni gehe und den Vormittag über mit dir ins Büro komme?«, weil sie sich dachte, dass sie zu Hause doch nichts machen konnte außer sich verrückt.
Die Visitenkarte in der Tasche, lief sie neben meinem Vater her und fragte ihn über die Blumengestecke aus, über die Einladungen, über den netten Standesbeamten, den er doch neulich erwähnt hatte, nicht wahr?, nickte alles so strahlend ab, dass er sich ihrer guten Laune nicht länger entziehen konnte.
»Schön, dass wir endlich mal wieder etwas Zeit füreinander haben«, sagte er und drückte ihre Hand.
Meine Mutter strahlte noch mehr. »Ich hab doch gesagt, ich geb mir Mühe.«
»Ja, das seh ich«, sagte Arno.
Und mein Großvater sah es auch. »Na, da scheint aber mal jemand aus seinem Koma erwacht zu sein«, rief er, als meine Mutter sich zurück zur Arbeit meldete und ihm nach einer Stunde bereits den ersten Stapel fertig erfasster Bestellungen auf den Schreibtisch knallte, denn jetzt, wo sie ausnahmsweise mal nicht hoffen und bangen und sich sorgen musste, jetzt, wo sie endlich mal wusste, wie und wo und vor allem wann sie ihn wiedersehen würde, konnte sie sich auch wieder konzentrieren. Mit lang vermisster Energie spurtete sie durchs Lager, fand die verschollene Lieferung, lief zurück in den Laden, schleuste einen Kunden nach dem andern zur Kasse, deren Glöckchen gar nicht mehr zu bimmeln aufhörte. Erst als meine Großmutter zum ersten Mal das Mittagessen aufzutragen versuchte, schaute sie erschrocken auf die Uhr und bat meinen Vater, das »wenn ich mal nicht mehr bin« heute an ihrer Statt über sich ergehen zu lassen – zu was der sich so schnell bereiterklärte, dass sie sich doch zumindest ein klitzekleines bisschen schlecht fühlte, auf sein »bis heute Abend!« nur mit »ja, bis später!« zu antworten. Aber ihm gleich zu gestehen, dass sie die Nacht außer Haus verbrächte, hätte ihm nur die Gelegenheit gegeben, Fragen zu stellen, Einwände zu erheben, schlimmer noch, sie aufzuhalten. Da war es doch besser, ihn irgendwann später von einer Telefonzelle aus anzurufen und ihm irgendeine herzzerreißende, in 30 Pfennig Redezeit kaum zu hinterfragende Erklärung aufzutischen.
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