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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Stricker
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erzählte, um im Schutz des Restaurants auszuprobieren, ob die Worte auch außerhalb ihres Gaumens überleben würden.
    Nur wenn sie Alex traf, sagte sie nichts. Weder das , noch sonst etwas. Sie schaffte es nicht mal, etwas anderes zu denken. So sehr war der Satz in ihrem Kopf angeschwollen, dass daneben keine noch so flüchtige Bemerkung Platz hatte. Sie saß da, drückte ihr Kinn in die Handfläche, die Finger darüber, damit auch ja nichts herausspritzte, sah ihn stumm an, während sie jeden Moment damit rechnete, dass er sie auf ihr seltsames Verhalten ansprechen würde.
    Aber Alex schien ihr Schweigen nicht zu stören. Stattdessen begann er zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, von sich aus zu erzählen  – und gleich so viel, dass meine Mutter sich ernsthaft fragte, ob er womöglich gar nicht so verstockt war und sie ihm mit ihrer panischen Angst, eine Sekunde Stille aufkommen zu lassen, einfach keine Chance zum Reden gegeben hatte.
    Sein bevorzugtes Thema war die Arbeit. Denn in Deutschland gäbe es ja nichts anderes als das. Arbeit, Arbeit, Arbeit. Außer für ihn. Für einen wie ihn gäbe es natürlich keine Arbeit, außer der Drecksarbeit, die kein Deutscher machen wolle, wie die im Restaurant oder die auf dem Bau, wo er zuvor gearbeitet hatte, und davor bei der Stadtreinigung, wo er schon morgens um drei hatte anfangen müssen, als Kehrer, was bedeutete, dass er die McDonald’s-Tüten, die die reichen Kinder neben den Mülleimer warfen, in die Mitte des Gehwegs hatte kehren müssen, sodass die Kehrmaschine sie aufnehmen konnte. »Reiche, deutsche Kinder«, sagte er, für den Fall, dass Letzteres noch nicht klar geworden sein sollte. Manchmal habe er unterwegs einen der anderen Kehrer getroffen und eine Weile mit ihm zusammen gekehrt, oder auch nicht. Manchmal hätten sie sich auch neben ihre Kehrbesen in den Dreck gesetzt und etwas geredet, oder auch nicht. Und um neun Uhr seien sie dann alle zum Mittagessen ins Anadolu gegangen, einen Türkenimbiss, und hatten eine türkische Suppe gegessen, die furchtbar schmeckte, naja, so schlimm dann auch wieder nicht. Und dann habe er weiterkehren müssen.
    Nach all den Wochen, in denen Alex kaum den Mund aufgebracht hatte, war meine Mutter so ausgehungert danach, seine Stimme zu hören, dass sie richtiggehend an seinen Lippen hing, auch wenn der Großteil seiner Geschichten nur aus der minutiösen Beschreibung seines Tagesablaufs bestand, in dem außer Zeit eigentlich gar nichts ablief. Der andere Teil galt voll und ganz seiner Wut. Wut auf die Deutschen, Wut auf seine Arbeitgeber, Wut auf all die Menschen, die ihn schlecht behandelten, die aber auch alle Deutsche waren, denn in der Ukraine seien alle immer gut zu ihm gewesen. Selbst die, die ihn wegen seines Jüdischseins beschimpft, und ja, ja, ihm auch gelegentlich nach der Schule aufgelauert und ihn verdroschen hatten, seien, wie er auf die schüchterne Nachfrage meiner Mutter widerwillig einräumte, keine wirklich schlechten Menschen gewesen, denn zumindest waren die ehrlich. »Nicht wie die Deutschen, die immer so freundlich tun. Wenn dich bei uns einer nicht ausstehen kann, sagt er’s dir wenigstens ins Gesicht«, erklärte er, als verbiete sich damit jede weitere Kritik. Die sich jedoch eigentlich auch sonst immer verbot. Zuwiderhandlungen wurden mit neuer Wut bestraft, von der er offenbar ganz schön viel aufgestaut hatte.
    Aber meine Mutter war längst an dem Punkt, an dem Schwächen die Liebe nur stärken, an dem einem die schlechten Seiten lieber sind als die guten, weil es eben seine schlechten Seiten sind, die zu verzeihen man allein das Privileg hat. Die Stärken gehören allen, die Schwächen nur dem Liebenden.
    Und so wurde, jedes Mal wenn er sich wieder aufregte, wenn er etwas sagte, was wirklich jeder Logik entbehrte, wenn er die banalsten Fakten nicht kannte oder sie mal wieder links liegen ließ, der Drang, es ihm zu sagen, besonders groß. Aber hier in seinem Zimmer, wo jede Sekunde jemand reinkommen und fragen konnte, ob man seinen Socken gesehen habe, zumindest war es das, was Alex ihr übersetzte, auch wenn der Fragende gar nicht so aussah, als würde er sich besonders für Socken interessieren, hier war nicht der richtige Ort dafür. Nein, sie wollte zumindest noch warten, bis sie allein wären. Wenn sie denn überhaupt je wieder allein wären.
    Aber die Gelegenheit dazu bot sich schneller als erwartet.
    »Wir sind doch nur drei Tage weg«, sagte mein Großvater, der die Einladung zur

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