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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Stricker
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viel weniger. Die Trennung ließ sie völlig kalt. Nein, selbst das wäre zu viel gesagt, sie dachte überhaupt nicht darüber nach. Wie ein Kind, das Fahrradfahren lernt und vor lauter Angst, runterzufallen, so stur auf den Lenker starrt, dass es gar nicht merkt, dass die sichernde Hand längst den Gepäckträger losgelassen hat und es sich immer weiter von zu Hause entfernt, trat sie unablässig in die Pedale. Und dafür, dass es ihr erstes Mal ohne Stützräder war, machte sie ihre Sache erstaunlich gut.
    Obwohl jetzt kein jammernder Arno mehr da war, der ihr die Zeit stahl, zwang sie sich, nicht öfter hochzugehen als bisher. Schaffte es einmal sogar, ein bereits verabredetes Treffen abzusagen, weil mein Vater sie angeblich ganz groß ausführen wolle, und erzählte Alex am nächsten Tag bis ins Detail, wo sie gegessen hatten, was sie gegessen hatten, wie schön die Rosen gewesen seien, die Arno ihr geschenkt habe. Unter Aufwendung aller Kräfte widerstand sie der Versuchung, sich mit Alex in ihrer Wohnung zu treffen, was der, nachdem Dimas Familie noch immer keinerlei Anstalten machte, das Haus zu verlassen, geschweige denn abzureisen, jetzt plötzlich doch nicht mehr so abwegig fand.
    »Nur ganz kurz, wenn dein Mann bei der Arbeit ist«, versuchte er sie zu überreden. Aber meine Mutter wich auch diesem Schlagloch aus, legte sogar noch einen Zacken zu, so freute sie sich, dass sie sich noch immer aufrecht hielt.
    Und sah nicht, dass sie auf einen Abhang zuraste.
    Nein, wahrscheinlich sah sie es schon und dachte nur, er sei weniger steil. Nein, wahrscheinlich sah sie auch das, aber dachte, es würde Spaß machen, da runterzufahren, sie könne Alex mitreißen, sich mit ihm gemeinsam in die Tiefe stürzen. Woher sollte sie auch wissen, wie gefährlich es sein kann, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen? Aber geahnt haben, wenigstens geahnt haben muss sie es. Sonst hätte sie sich wohl kaum so viel Zeit damit gelassen.
    Das erste Mal, dass sie es ihm beinahe sagte, war nur ein paar Tage, nachdem mein Vater sein Versprechen, keinen Kontakt zu wollen, das erste Mal gebrochen und ihr eine Karte mit seiner neuen Adresse in den Briefkasten gesteckt hatte, »nur falls was ist«, über was meine Mutter sich so aufregte, dass sie ausnahmsweise doch wieder einfach so, ohne vorherigen Anruf, hochstieg und an die Tür klopfte.
    Glücklicherweise war der Besuch zwar da, schlief aber und das, offenbar in Folge eines nächtlichen Gelages zu erschöpft, um wie sonst die Betten zu beschlagnahmen, kreuz und quer über den Wohnzimmerboden verteilt. Selbst Dima kauerte in Embryonalstellung zwischen Bruder und Schwager, Romão war bei der Arbeit, sodass sie das Schlafzimmer für sich hatten, was ihnen mittlerweile schon reichte.
    Meine Mutter sah Alex zu, wie er die Tür vor den Türrahmen schob, zog ihr T-Shirt aus, als ihr die Worte plötzlich in den Mund schwappten, wie ein fettiges Essen, das einem aufstößt. Sie konnte gerade noch rechtzeitig die Lippen auf seine drücken, sodass sie irgendwo in seiner Mundhöhle versiegten.
    Aber am nächsten Tag stiegen sie ihr schon im Treppenhaus in den Hals, säuerlich, als hätten sie ihr die ganze Nacht im Magen gelegen. Und von da an wurde es immer schlimmer. Ihr Kiefer begann richtig zu schmerzen von den Stunden und Tagen und schließlich Wochen, die sie die Zähne ineinanderbiss, um die Worte zurückzuhalten.
    Sogar wenn er nicht da war, drängten sie aus ihr heraus, schlichen sich auf das Eselsohr einer Bestellung oder an den Rand der Zeitung, blinzelten meiner Mutter schelmisch zu, ohne dass sie sich daran hätte erinnern können, sie geschrieben zu haben, obwohl sie die Tatwaffe unübersehbar in der Hand hielt.
    Angenehmer war es, wenn sie im Radio oder auf einer der großväterlichen »Zädähs« auf sie warteten, sodass sie sie unbesorgt mitsummen konnte, I love you, Je t’aime, Te amo, Hauptsache der Text war nicht deutsch, was in den 90ern allerdings kaum zu befürchten war. So, in einer fremden Sprache, in der sie das, was sie da sagte, zwar verstand, aber nur mit halbem Herzen fühlte, konnte sie sich in aller Ruhe an den Scheitelpunkt heranwagen, ohne gleich ins Ungewisse zu rasen. Erst als sie auf diese Weise eine Weile geübt hatte, fühlte sie sich mutig genug, zumindest schon mal die Stammkunden-Anna den Abhang hinunterzustoßen und sich einer alten Liebe offenbaren zu lassen, »mitten im Frisörsalon!«, wie meine Mutter erst Schnuckiputzi und dann einigen der Kellner

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