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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Stricker
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Mutter schnürte sich der Hals zusammen. »Warum gehst du dann nicht doch mal in eine Synagoge?«, presste sie heraus, »da gibt’s sicher mehr Auswahl.«
    Alex lachte wieder, blieb aber wenigstens endlich stehen und schaute zu ihr herab. Er strich über ihr Gesicht, erst nur mit den Augen, dann nahm er den gekrümmten Zeigefinger dazu und ließ ihn über ihre Wangen gleiten. »Weil ich lieber mit einer Nazibrut in Hotelbetten rumliege«, sagte er und stieß sie in ihr Grübchen.
    Die Häuser drehten sich immer schneller, zogen einen Schweif nach sich, als er plötzlich: »Ich wünschte, wir hätten noch eine Nacht« sagte.
    »Dann lass uns doch einfach noch eine bleiben!«, entfuhr es ihr.
    Seine Stirn legte sich in Falten. »Geht das denn, mit Anna?«
    »Die bleibt sowieso bis Sonntag bei ihren Großeltern«, rief meine Mutter, froh, wie schnell ihr die Lügen schon von den Lippen gingen.
    Alex rieb sich über den Kopf. »Und dein Mann?«
    Meine Mutter machte eine wegwerfende Bewegung. »Dem erzähl ich schon irgendwas«, sagte sie und merkte nicht mal, dass sie das tatsächlich würde tun müssen.
    Aber Alex war noch nicht ganz überzeugt.
    »Sicher?«, fragte er skeptisch, »nicht, dass du es morgen bereust.«
    Meine Mutter schüttelte heftig den Kopf, während ihr Kiefer von einem Gähnen auseinandergerissen wurde.
    »Was ist denn los mit dir?« fragte er lachend, »wir haben fast elf Stunden geschlafen!«
    Sie wischte sich über den Mund, suchte nach einer Antwort, aber weder konnte sie ihm sagen, dass sie die halbe Nacht wachgelegen und ihn angestarrt hatte, noch mochte sie das »wir« zurückgeben.
    »Sicher«, sagte sie stattdessen, drehte sich um und rannte voraus.
    Aber die Wahrheit war, dass sie längst vergessen hatte, was Reue eigentlich war. Und morgen erst recht. Sie schaffte es kaum, mehr als drei, vier Sekunden in die Zukunft vorauszudenken. Als blättere sie durch einen Stapel Polaroidaufnahmen, sah sie Alex’ Hände, die sie einfingen, sie an ihn drückten, sah seine Lippen, die sie küssten, an jeder grünen Ampel, die sie gerade noch schafften, an jeder roten, die sie gerade nicht mehr schafften, sodass sie sich noch länger küssen konnten. Und als sie sich schließlich wieder dem Hotel näherten und er ihr ins Ohr flüsterte, dass sie auch in dieser Nacht keinen Schlaf kriegen würde, als er ihr auf den Po schlug, während sie die Straße überquerte, als sie über den Filmschatten lachten, den ihre aneinandergepressten Körper auf die gegenüberliegende Wand warfen, dachte sie, dass sie auch nicht mehr nach hinten denken wollte, dass das zu schön war, um etwas davon für ihr Gedächtnis abzuknipsen, dass sie nicht bereit war, mit der Vergangenheit zu teilen. Sie ließ sich fallen, versank ganz und gar in dem Moment. Erst als sie am nächsten Vormittag nach Hause kam, sprangen die Rädchen in ihrem Hirn nach und nach wieder an, so langsam, dass sie eine ganze Stunde auf die leere Schrankhälfte starren musste, bis sie kapierte, dass mein Vater weg war.

16. Kapitel
    »Wie weg?«, fragte ich.
    »Na, weg halt.«
    »Du meinst, dass er dich verlassen hat.«
    »Mein Gott, bei dir klingt das immer gleich so dramatisch«, sagte sie und verdrehte die Augen, noch immer mit dieser achselzuckenden Naund?igkeit, mit der sie auch damals reagiert hatte, nämlich: so gut wie gar nicht.
    Das erste, was sie tat, war, die Schuhe meines Vaters, die er, wie er auf einem seiner ausnahmsweise mal tatsächlich für eine Nachricht und nicht zur Bekräftigung seiner Gefühle genutzten Zettel erklärte, nicht mehr in den Koffer bekommen hatte und später abzuholen gedachte, »wenn es nicht mehr so wehtut«, vor die Tür zu stellen  – was auf den ersten Blick vielleicht grausam scheint.
    Aber auf den zweiten ist es noch viel grausamer.
    »Wie kommst du denn darauf?«, rief sie überrascht, als ich ihr vorwarf, dass sie ihn ja wohl wenigstens noch mal in die Wohnung hätte lassen können, »klar hätte er rein gedurft. Ich wollte nur, dass Alex die Schuhe sieht.«
    »Wieso das denn?«
    »Na, nicht, dass er noch was gemerkt hätte! Er sollte doch glauben, dass noch immer ein Mann hier wohnt«, sagte sie und sah mich an, als hätte ich Schnodder im Gesicht.
    Sie stellte also die Schuhe vor die Tür, und das so, dass ein Vorbeigehender geradezu darüber stolpern musste. Entblödete sich nicht, irgendwas von »Stinkesohlen« und »lüften« zu rufen, wie alle Lügendebütanten absurd paranoid, als ginge es darum, eine

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