Fünf Kopeken
Mutter riss erschrocken die Hände zurück.
»Geht doch«, rief Rudi und schlug aufs Lenkrad.
Meine Mutter ging zur Fahrertür und hielt ihm die halbe Kassettenhülle hin.
»Ey, danke«, sagte er und warf das Stück Plastik neben sich.
»Bitte«, murmelte sie.
Er zog die Autotür zu und ließ den Motor an. Der Wagen holperte ein Stück die Straße entlang, wendete am Ende und kam wieder auf meine Mutter zu. Sie hob die Hand, in der kaum noch Gefühl war. Aber anstatt an ihr vorbeizufahren, hielt er direkt neben ihr an und kurbelte das Fenster runter.
»Gehste wieder rein?«, fragte er und steckte seinen Kopf ein Stück heraus.
»Nee, ich glaub ich wart’ hier, bis mein Vater mich abholt«, sagte meine Mutter.
»Wann kommt der denn?«
»Bald«, sagte sie, und weil er sie noch immer ansah, »so um 11.«
»Das ist noch mehr als ne Stunde bis hin«, sagte Rudi, »soll ich dich vielleicht wo absetzen?«
»Ne, schon okay.«
»Macht mir echt nix.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Warum denn nicht?«, fragte Rudi.
Meine Mutter machte einen Schritt nach hinten. »Ich, äh, also, ich steig nicht bei Fremden ein«, sagte sie verlegen.
»Das ist jetzt nicht dein Ernst!«, rief Rudi. »Glaubst du, ich raub dich aus?«
»Quatsch«, sagte meine Mutter. Die Kälte kroch unter ihren Rock. »Vielleicht geh ich auch wieder rein.« Ihr Kiefer wollte ihr kaum noch gehorchen.
»Na komm schon!«, rief Rudi und grinste, »ich beiß nicht!«, und »du holst dir doch den Tod.«
Sie schaute an ihm vorbei zum Haus.
»Macht mir echt nix«, sagte er noch mal.
Meine Mutter zog die Weste unterm Hals zusammen, machte noch einen Schritt rückwärts, sah die Beine, die in der Strumpfhose zitterten, und auf einmal, als stoße jemand gegen ihren Hinterkopf, nickte sie, erst mehr versuchsweise, mit dem Kinn allein, dann noch mal richtig mit dem ganzen Kopf. Ihre Lackschuhe rutschten auf dem Boden, während sie um das Auto herumlief und schnell in den Wagen schlüpfte, bevor sie es sich anders überlegen konnte.
»Geht doch«, sagte Rudi, während sie die Tür zuzog und nach dem Gurt tastete.
»Der fehlt«, sagte er.
Wieso das denn?, wollte sie fragen, begnügte sich dann aber doch damit, mit angstgeweiteten Augen aus dem Fenster zu starren. Und das Fenster starrte zurück. Ihre Augen spiegelten sich in der Scheibe, die von drinnen noch völlig zugefroren schien. Rudi musste sich fast aufs Lenkrad drauflegen, um durch das winzige Guckloch nach draußen schauen zu können. Aus seinem Ärmel tropfte es auf die Handbremse, unter der sich ein kleiner See bildete.
Ein dumpfer Knall war zu hören. Meine Mutter fuhr herum, sah ganz kurz den Mann am Straßenrand, der auf den Kofferraum schlug und im Rückspiegel die Hand hin und her drehte.
»Ups«, kicherte Rudi und bückte sich zur Seite. Die Scheinwerfer schossen einen Tunnel in die Dunkelheit.
Die Nägel meiner Mutter bohrten sich durch die Strumpfhose.
Er tastete unter seinen Sitz, presste die Lippen aufeinander und das Blut in die Stirn, als säße er auf dem Klo, fand endlich, was er gesucht hatte, und zog mit einem Ruck die Hand nach oben. Der Wagen rutschte ein wenig nach links.
»Ups«, sagte er noch mal und packte das Lenkrad. In der anderen Hand hielt er die Kassette fest, die er da unten offenbar gefunden hatte, steckte den Zeigefinger in eines der Rädchen und rollte das Band auf, das wie ein brauner Wurm nach unten hing, schob die Kassette in den Rekorder. Aus den Lautsprechern ertönte neues Gitarrengeschrammel. Rudis Daumen trommelte aufs Lenkrad, während er über den Lärm hinwegschrie: »Wo soll’s denn hingehen?«
Meine Mutter nannte ihm die Adresse.
Er strich sich das Haar hinter die Ohren, das sofort wieder nach vorne fiel. Zwischen den Strähnen hingen weiße Bröckchen, Eis oder Dreck, auch das ließ sich schwer sagen. »Wo issn das?«, fragte er.
»Gleich neben dem Rathaus«, sagte meine Mutter. »Am Marktplatz.«
»Da beim Mode-Schneider?«
»Ja, das sind wir.«
»Ihr seid das!«, rief Rudi. Sein Kopf flog zu ihr.
Meine Mutter nickte.
»Das gehört euch?« Er schüttelte den Kopf, sodass ihm das Haar noch weiter vor die Augen fiel. »Ist ja irre. Das ist doch ein riesen Geschäft!«
»Ja, schon«, sagte meine Mutter und schaute angestrengt geradeaus, in der Hoffnung, dass er es ihr nachtun würde.
»Irre! Deine Alten müssen ja scheißereich sein!«, rief er.
»Äh, kann sein.«
»Irre!«, rief er noch mal, schaute aber wenigstens wieder auf die
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