Fünf Kopeken
überhaupt?« Einen Moment sah er meiner Mutter durch die fingerdicken Gläser direkt in die Augen. »Manchmal weiß ich echt nicht, was los ist mit euch Frauen!«
Das Herz meiner Mutter, die beim Straßeüberqueren noch immer die Hand meiner Großmutter halten musste, hämmerte gegen die Brust.
Rudi drehte sich wieder nach vorne, rief »Ich kapier das nicht«, was ihn aber nicht davon abhielt, weiter Vermutungen anzustellen. »Die hat sie doch nicht alle!«, war eine davon. »Die denkt wohl, sie kann mich für blöd verkaufen!«, eine andere. Sein Daumen, der jetzt klang wie das Klopfen eines Spechts, wurde immer schneller. Und der Wagen wurde es auch.
Meine Mutter drückte sich ein wenig zur Seite, tastete nach dem Türgriff, krallte dann aber doch die Finger in den Oberschenkel und den an den Sitz, hielt sich an sich selbst fest und er sich an seiner Wut, die ihn um eine Kurve nach der anderen jagte.
»Aber«, schrie er nun schon richtig, »nicht mit mir! Das sag ich dir, mit mir nicht!« Sein Knie begann ebenfalls auf und ab zu hüpfen, während er nun die ganze Hand zur Hilfe nahm und sich redlich bemühte, das Lenkrad in zwei Teile zu schlagen. »Das hat die sich so gedacht!«, rief er. »Dass ich nach ihrer Pfeife tanz! Dass ich der auch noch nachrenn. Die glaubt wohl, dass sie mit mir Schlitten fahren kann!«, was stattdessen dann aber die Reifen machten, die mit einem Mal nach links ausscherten. Der Wagen raste gegen die Leitplanke, schrammte ein paar Meter an ihr entlang, bevor er wieder in die Mitte schoss. Meine Mutter sah zu Rudi, der wie versteinert dahockte, sah sein Gesicht, über das die entgegenkommenden Scheinwerfer blitzten, griff endlich an ihm vorbei und riss das Lenkrad nach rechts, wieder nach links, worauf sie seitlich noch mal gegen die Planke schlugen, die sich kreischend durch den Lack fraß. Meine Mutter spürte, wie die Kraft unter ihren Händen davonglitt, sah die Tannenwand, Lichter, Straße, Nacht. Sie flog gegen die Tür, schloss die Augen, oder nicht, dachte, dass sie nicht denken könnte, tat es doch, sah Michaela und die anderen, wie sie auf ihrer Beerdigung am Grab stehen und sich unglaublich elend fühlen würden, weil sie sie so schlecht behandelt hatten, dachte an Schnee und Kälte, an verdrehte Glieder, sie stellte sich vor, wie friedlich es sein würde, in einem Bett zu liegen ohne Arme und ohne Beine und vielleicht mit noch weniger, fühlte die Ruhe in ihr und dann den Schlag, erst nur als Widerhall in ihrem Rücken, dann auch an ihrem Kopf, der gegen die Scheibe donnerte und wie ein Dopsball zurückschoss. Etwas kratzte an ihrem Ohr entlang. Sie roch die Erdbeeren, fühlte seine Hand, die sich um ihren Arm schloss und sie auf seine Seite zog, sodass ihr für einen Moment die Augen aufflogen und sie auf seine dicken Finger blickte, die ihre Haut zusammenpressten, dann auf das Straßenschild, das auf sie zuraste und die Beifahrertür streifte, sodass der Wagen sich noch mal um die eigene Achse drehte, an den Tannen entlangratschte, bis er endlich zum Stehen kam. Die Zweige knackten.
Und dann war erstmal nichts.
Gar nichts.
Kein Geräusch.
Keine Bewegung.
Nur Schwärze, die meine Mutter nach unten zog und unter sich begrub.
Sie fühlte sich leicht.
Sie fühlte sich schwer.
Fühlte überhaupt nichts, außer der Stille.
Und dann einen Schlag, als würde ihr jemand die Faust in die Brust rammen.
Sie sprang nach oben, hörte einen gellenden Schrei. Kalter Schweiß rann ihr über den Nacken. Sie drehte sich im Kreis, während der Schrei von überall gleichzeitig kam.
»Ruhig«, hörte sie seine Stimme, fühlte seine Finger an ihrem Mund. Der Schrei wurde dumpf und dunkel. Sie spürte ihren eigenen Atem, die warme Feuchtigkeit in seiner Handfläche, dann die andere Hand auf ihrem Rücken, seinen Arm, der sie so fest an sich drückte, dass sie sich kaum rühren konnte. Vor ihren Augen tanzten bunte Flecken. Seine Finger drückten gegen ihre Zähne, bis der Schrei endlich verebbte und sich die Laute in ihrem Ohr zu einem Wort formten. »Ok«, sagte er immer wieder, »ok«, während er hektisch über ihren Rücken streichelte.
Sie roch seinen Mund, der nach Kuchenteig duftete, spürte die Wärme, die sich von ihrem Gesicht löste. »Alles okay?«, fragte er.
»Ich glaub schon«, brachte sie mühsam heraus. Ihr Gaumen schmeckte faulig.
»Verdammte Scheiße!«, rief Rudi und lachte. Ein paar Knöpfe verirrten sich zwischen ihre Lippen, während er sie an sich drückte,
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