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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Stricker
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sie doch nicht alle!«
    »Du haschd schi alle«, schrie Michaela und kickte mit dem Fuß in die Luft. Die Umstehenden sprangen auseinander. Meine Mutter senkte den Kopf, der unversehens nach oben gehüpft war. Aber tatsächlich war es ganz schön anstrengend, nicht hinzusehen.
    »Was soll denn das?«, rief Rudi noch mal. Er sprang auf und versuchte Michaela am Arm zu fassen, aber mit einer plötzlichen Klarheit wand die sich unter seiner Hand weg und begann schallend zu lachen. Die Musik verstummte. Rudi schnaubte.
    »Wart du nur«, rief er und das taten alle, aber es schien ganz so, als wüsste er selbst nicht so genau auf was. Unruhig fuhr er sich über das schwarze, speckige Haar, während Michaela immer lauter lachte. Er strich sein Hemd glatt, klappte den Kragen wieder um, der ihm vom Hals abstand wie diese Trichter, die Hunde tragen, damit sie nicht an sich selbst lecken. Seine Arme steckten in einer Lederjacke, auch wenn er die zu dem Zeitpunkt wohl noch nicht wirklich anhatte. Und wahrscheinlich war sie auch nicht ganz so zerschlissen, wie meine Mutter sich das gemerkt haben will, denn so krawallig und alternativ und »dagegen« ihr alle hier auch schienen, so waren die Jugendlichen in ihrem Kaff und den Käffern drumherum am Ende doch wohlerzogene Bitte- und Dankesager, die sich vorm Weggehen mit Mamaspucke übers Gesicht reiben ließen und am Weltspartag ihr Schweinchen gegen einen »Unsere schöne Pfalz«-Kalender eintauschten. Genauso fraglich scheint mir deshalb auch das ganze Sodom-und-Gomorra-Szenario an sich, am meisten die Michaela darin, die angeblich noch immer ein irres Lachen im Gesicht hatte und mit den glasigen Augen und katzenkrallig in die Luft schlagenden Fingern auf mich mehr wie ein Junkie auf Acidtrip als ein besoffener Teenager wirkt. Aber als meine Mutter mir die Geschichte erzählte, waren mehr als drei Jahrzehnte vergangen. Es braucht leuchtende Farben, um ein Bild über einen so langen Zeitraum am Ausbleichen zu hindern.
    »Pass auf!«, rief Rudi, aber auch diese Ankündigung blieb folgenlos.
    »Na komm«, sagte einer der Jungen aus der Menge und hielt ihn an der Schulter fest. »Jetzt wollen wir uns mal alle wieder beruhigen, Freunde«, aber Rudi sah ihn alles andere als freundlich an.
    »Lass mich«, rief er.
    »Das bringt doch nix.« Der Junge legte seinen Arm um ihn und zog ihn weg, also: in die Küche. Meiner Mutter blieb nicht mal Zeit, über Flucht nachzudenken, schon drängten sie sich an ihr vorbei und ein Haufen Schaulustiger hinterher. Der Junge nahm ein Bier aus dem Kühlschrank und hielt es Rudi hin.
    »Die hat sie doch nicht alle«, murmelte der noch mal und schüttelte den Kopf, griff dann aber doch nach der Flasche und klackte sie mit einem Feuerzeug auf. Er trank so schnell, dass die Hälfte daneben ging. Meine Mutter sah von unten das Bier an seinem Kinn hinabrinnen, und jetzt erkannte sie ihn auch, obwohl sie »so einen« natürlich nicht wirklich kannte, aber gesehen hatte sie ihn wohl schon mal, beim Abi-Scherz, als er die Fünftklässler mit einer Wasserpistole beschossen hatte.
    Er legte den Kopf nach hinten, bis auch der letzte Tropfen in seinen Mund gelaufen war, und knallte dann die Flasche auf die Theke. Mit der einen Hand wischte er sich den Mund ab, mit der anderen strich er sich das Haar hinter die Ohren, das jetzt nicht nur schwarz und speckig, sondern auch noch lang und verfilzt sein sollte.
    »Gut so«, sagte der Junge, wie eine Krankenschwester, die einen widerspenstigen Patienten dazu gebracht hat, seine Pillen zu nehmen. Er legte Rudi den Arm auf die Schulter, der unter dessen Last nach unten sackte. Als hätte jemand einen Dominostein angestoßen, klappten auch die anderen nach vorne, bis die ganze Belegschaft vor meiner Mutter auf den Fliesen saß.
    »Da sind doch noch überall Scherben«, murmelte die, aber es quetschen sich nur immer mehr Neugierige in die Küche, Knie stießen in ihren Rücken, Absätze wackelten bedrohlich nah, sodass meine Mutter beschloss, dann doch noch mal auf die Toilette zu müssen. Die Ellenbogen an den Körper gepresst zwängte sie sich Richtung Badezimmer. Und konnte gerade noch sehen, wie das weinende Mädchen, das jetzt offenbar nicht mehr weinte, mit einem Jungen darin verschwand.
    Sie stellte sich in die Schlange zu den andern Wartenden, die ihr, nachdem die beiden zehn Minuten später noch immer da drin waren, erklärten, die hätten etwas Dringendes zu besprechen, was offenbar nirgendwo anders besprochen werden

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