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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Stricker
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Kraft der Bilder und wie verrückt er sei, dass ihn ja zum Beispiel Perfektion überhaupt nicht interessiere, dass er es im Gegenteil viel spannender fände, die Abgründe zu beleuchten, was er, dem Pathos nach zu urteilen, von dem ihm die Stimme vibrierte, wohl tatsächlich für innovativ hielt.
    Und dann? Machte er meiner Mutter ein Kompliment. Oder so was Ähnliches.
    Neid, Hass, das Hässliche, Ab-stoßende, das sei es, was den Menschen an-zöge, in der Kunst genauso wie im wirklichen Leben, »wenn das überhaupt ein Unterschied ist.« Schönheit hingegen sei einfach so schrecklich langweilig.
    Er drehte sich nach rechts, legte den Kopf zur Seite. Über seine Schulter blendeten die Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Autos, sodass meine Mutter sein Gesicht nicht sehen konnte. Blind starrte sie ins Licht. Dann sagte er: »Vielleicht fotografier ich ja mal dich.«
    Der Wagen raste vorbei.
    Er legte die gespreizten Daumen aneinander, sodass seine Hände ein nach oben offenes Rechteck bildeten, und hielt es wie einen Rahmen vor ihr Gesicht, während er das Lenkrad mit dem Oberschenkel ruhig hielt.
    Einen Augenblick dachte meine Mutter darüber nach, beleidigt zu sein.
    Er zuckte mit dem Zeigefinger, als würde er den Auslöser drücken, schnalzte wieder mit der Zunge.
    Und das gefiel ihr dann irgendwie doch.
    »Ja, vielleicht«, sagte sie, so leise, dass sie sich nicht sicher war, ob er es gehört hatte. Sie schaute unsicher nach links, betrachtete zum ersten Mal sein Gesicht, das immer wieder im Schein der vorbeifahrenden Autos aufblitzte, die Bartstoppel, das runde Kinn, das schon fast etwas schwammig wurde. Man konnte sehen, dass er älter war als die Jungs in ihrer Klasse. Und so sehr meine Mutter es auch leugnete, ein bisschen gefiel ihr auch das.
    »Was fotografierst du denn so?«, fragte sie.
    »Alles Mögliche«, sagte er und tastete nach dem Kassettenrekorder. »Vor allem Menschen.« Das Geschrammel wurde leiser. Er machte eine Kopfbewegung zum Rücksitz. »Ich hab auch vorhin ein paar Bilder geschossen. Auf ner Fete sind die Leute einfach entspannter, da kriegste die echtesten Bilder. Das ist gelebte Kultur!«
    Außer dem Schimmel im Badezimmer habe sie keine Kulturen erkennen können, erwiderte meine Mutter.
    Einen Moment sah Rudi sie an. Dann lachte er. »Mhm, haste vielleicht recht«, sagte er und kratzte sich an der Stirn. An seiner Nase hing ein Tropfen. »Sind ja schon alles ziemliche Langweiler.«
    »Woher kennst du denn die Michaela?«, fragte meine Mutter.
    Er stieß die Luft durch die Nase. »Keine Ahnung.« Der Wagen wurde schneller. Wie Eiskristalle blitzten die Lichter vor ihnen auf.
    Er drehte mechanisch den Kopf zum Rückspiegel und wieder zurück, aber diesmal blieben seine Augen auf dem Lenkrad hängen, hoben sich kaum, auch dann nicht, als er auf die Überholspur zog. Die Scheinwerfer flogen vorbei, sprangen in den Seitenspiegel, wurden zu immer kleineren Punkten, bis sie endlich ganz verschwanden.
    In den Kurven konnte man schon die Kirche sehen, ein riesiger, meteoritenhaft zwischen den Schindeldächern herausragender Klumpen, in dem meine Großmutter am nächsten Tag stellvertretend für meinen Großvater die Sünden beichten würde, die er in jener Nacht noch begehen sollte. Über was er, als sie das dann wiederum ihm beichtete, sich so ärgerte, dass er zur Strafe zwei Tage außer Haus essen und bei seiner Rückkehr jedes Mal »Mmm, das war ja mal lecker« rufen würde. Aber noch erinnerte sich meine Mutter bei dem Anblick nur an ihren Gesangsauftritt, stieg in Gedanken wieder die Empore hinauf, als Rudi plötzlich »Keine Ahnung, woher ich die eigentlich kenn« rief, »die hat einfach irgendwann angefangen, mir total nachzurennen.« Sein Daumen begann wieder zu trommeln, aber jetzt war ihm der Takt egal. »Ich wollt eigentlich schon Schluss machen, aber meine Kumpels haben gesagt, wart noch, also dacht ich, gut, die ist ja eigentlich ganz okay.« Er schüttelte den Kopf. »Den ganzen Weg hier raus in die Pampa bin ich gefahren wegen der!« Er wischte sich mit dem Handrücken über die Nase, aber der Tropfen blieb hängen, oder vielleicht kam auch gleich der nächste. Er schoss an zwei Lastern vorbei, die sich kaum zu bewegen schienen. Meine Mutter hielt die Luft an, bis die Pflöcke wieder auftauchten.
    »Eigentlich kenn ich die gar nicht!« Er schluckte, als würde ihm von der Schwere seiner Worte die Kehle zuschwellen, zog endlich den Blick vom Lenkrad. »Wen kennt man denn

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