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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Stricker
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die Nase hochzog. Dann nahm er seinen Arm von ihrer Schulter, rutschte ein wenig zurück, um sein Bein freizubekommen, und schob sie vorsichtig zurück auf den Sitz. Sein Ellenbogen streifte ihre Strumpfhose, während er ihre Brille aus dem Fußraum fischte und mit seinem Hemdzipfel abwischte. Sie fühlte seine Finger an ihrem Ohrläppchen, sah sein Gesicht, das wilde Haar, den Wald hinter ihm, dann auch das Schild mit der 100, die auf dem Kopf stand und in den nächsten Wochen durch eine 80 ersetzt werden sollte  – was meinen Großvater so freute, dass er, als er davon hörte, sofort zur Unfallstelle fuhr und wieder ein Bild knipste. Meine Mutter musste sich danebenstellen und auf den roten Ring zeigen, wie die Mädchen in den Paillettenkleidern beim Großen Preis, während er auf die Straße rannte, um die Füße mit draufzukriegen. Nicht mal auf diese Sache stolz zu sein, ließ er sich nehmen, darauf, dass seine Tochter »eine Gefahr erkannt und für die Zukunft gebannt« hatte, wie er sagte. Aber nur wenn meine Großmutter gerade nicht in der Nähe stand. Sonst brach die gleich wieder in Tränen aus, ob all der Dinge, »die da hätten passieren können!«, auch wenn wie durch ein weiteres Wunder im Grunde eigentlich gar nichts passiert war, weder meiner Mutter noch Rudi. Und dem Ford Taunus auch nicht. Der Motor knurrte ein bisschen, als er den Zündschlüssel drehte, dann machte der Wagen einen Satz und schob sich ächzend aus dem Graben nach oben.
    Er stieg aus und trat gegen die Reifen, schrie »verdammte Scheiße« und »Scheiße verdammte«, während er immer weiter lachte, die Motorhaube öffnete und den Kopf hineinsteckte. Meine Mutter drückte die Hand auf den Magen, der plötzlich zu gluckern begann, sah die Haube zufallen. Rudi lief wieder am Fenster vorbei, klopfte gegen alles, was ihm einfiel, bis er endlich den Kopf ins Auto steckte. In seiner Hand hielt er einen abgerissenen Seitenspiegel. »Ist alles ok!« rief er und schüttelte sich vor Lachen. Seine Oberlippe glänzte gelblich. Er setzte sich auf den Fahrersitz, strich sich über die Haare, bis sie wieder ganz so aussahen, als hätte er sich seit Monaten nicht mehr gewaschen. »Ich denke, wir können wieder«, sagte er dann und trat zaghaft aufs Gas. Ein bisschen holprig aber ohne größere Probleme rollte der Wagen zurück auf die Fahrbahn.
    »Irre«, rief Rudi, aber nur so halblaut, als sei ihm das alles noch nicht ganz geheuer. Er fuhr so langsam, das man neben dem Wagen hätte herlaufen können, aber sie waren ohnehin fast am Ziel. Der Unfall hatte sich keine Minute von der Ausfahrt ereignet, gerade noch außerhalb der Sichtweite der Schäfer Marie, der neben dem Weitermachen von Hochzeitskleidern und ähnlichen Näharbeiten auch die Aufgabe zukam, die Dorfbewohner mit Klatsch zu versorgen. Zu diesem Zweck hatte sie sich eigens ein Kissen angeschafft, das sie auf die Fensterbank legte, sodass ihre Ellenbogen beim Gaffen weich gebettet waren. So hielt sie auch in dieser Nacht Wache und sah unweigerlich den Wagen mit der gesprungenen Scheibe und meine Mutter dahinter, »middäm Kerl!«, wie sie am nächsten Tag beim Bäcker, beim Metzger, auf dem Friedhof, schließlich sogar direkt vorm Mode-Schneider kundtat, bis mein Großvater aus dem Laden gestürzt kam und davonraste, sodass sie in der Hoffnung auf eine Fortsetzung lieber wieder Posten bezog.
    Der Wagen schlich also im Schneckentempo an ihrem Fenster vorbei, sodass sie einen guten Blick auf Rudi werfen konnte, dessen Hals tief zwischen die Schultern gerutscht war. Meine Mutter daneben glotzte aus dem Fenster, ohne etwas zu sehen, bis er unter den Perlmuttbeinen meiner Großmutter hielt und ausstieg. Mit schnellen Schritten ging er zum Eingang, als sei das sein Haus und nicht ihres, während sie ihm benommen nachlief.
    Und vor der Tür küsste er sie dann. Auch das wohl eher ein Versehen, weil sie sich nicht einigen konnten, in welche Richtung sich umarmt werden sollte. Wie zwei Boxer vorm ersten Schlag trippelten sie voreinander her, bis er endlich auf dem Weg zu ihrer rechten Schulter, sie zur seiner linken, irgendwo zwischen Mund und Nase hängenblieb und sich gerade noch mit einem Kuss aufs Auge retten konnte.
    Sie hielt die Luft an, während seine Lippen ihr Lid berührten, roch wieder seinen Atem. Dann schob er sie ein wenig von sich und klopfte ihr fester als nötig auf den Rücken.
    »Ist auch wirklich alles ok?«, fragte er noch mal und klimperte mit dem Schlüssel.
    »Mhm«,

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