Fünf Kopeken
sagte sie und knautschte das Täschchen in ihren Fingern.
Er ließ den Schlüssel in seiner Hand auf und ab springen. »Ich muss dann mal«, sagte er und nickte. Und meine Mutter tat es auch, hörte gar nicht mehr damit auf, nickte immer weiter, während er zurück zum Wagen ging, den Schlüssel ins Schloss steckte, »alles Gute« rief. Er ließ den Motor an, hob die Hand ins Fenster und fuhr davon. Eine Weile hörte man noch die Stoßstange, die über den Boden schleifte. Dann war es still.
Meine Mutter blieb stehen wie eine Uhr, die man vergessen hat, aufzuziehen. Regungslos sah sie das Licht, das im Haus anging und von einem zum anderen Fenster sprang, dann meine Großmutter aus dem Haus rennen, die in ihrem weißen Nachthemd wie ein Gespenst aussah.
»Wo kommst du denn jetzt her?«, rief sie, »der Papa sollte dich doch abholen!«, und in die andere Richtung: »Oskar, du wolltst sie doch abholen!« Sie schlang ihre Arme um meine Mutter, zog sie ins Innere, den Flur entlang, ins Arbeitszimmer, wo mein Großvater, die Brille auf der Stirn wie ein zweites Paar Augen, am Schreibtisch saß und etwas schrieb. Er trug noch immer seinen Anzug, aber das Haar hatte er abgenommen. Auf seinem Schädel schimmerten bräunliche Flecken.
»Du wollst sie doch abholen«, rief meine Großmutter noch mal, aber mein Großvater hob nur den linken Zeigefinger in die Luft, schrieb in Ruhe weiter, bis er endlich den Füller auf die Schreibunterlage legte und den Kopf hob. »Ja?«, fragte er.
»Das Kind!«, rief meine Großmutter und schob ihm meine Mutter entgegen, wie eine Melone, bei der man nicht genau weiß, ob sie schon reif ist.
Mein Großvater schaute auf seine Uhr. »Hatten wir nicht vereinbart, dass ich dich um elf abhole?« Er schob seine Gläser auf die Nase und faltete die Hände.
»Doch.« Meine Mutter versuchte, gerade zu stehen.
»Und was machst du dann hier?«
»Ich weiß nicht.«
»Wie, du weißt nicht?«, mein Großvater legte die Stirn in Falten, »was ist denn das bitte für eine Antwort?«
Meine Mutter schob die Arme hinter den Rücken. »Ich war schon fertig.«
Mein Großvater lehnte sich in seinem Ledersessel zurück. »Was soll das heißen? War die Party vorbei?«
»Nicht so richtig.« Ihre Knie fühlten sich, als würden darin Brausebläschen platzen.
»Dann versteh ich nicht, was du hier tust.«
Der Schreibtisch verschwamm vor ihren Augen.
»Nun?«, fragte mein Großvater.
Meine Mutter kniff die Pobacken zusammen, zuppelte an ihrem Kleid. »Ich hab’s da einfach nicht mehr ausgehalten«, murmelte sie.
»Du hast was?«, schrie mein Großvater.
»Oskar!«, rief meine Großmutter und legte meiner Mutter eine Hand auf die Schulter.
»Ich hab’s da nicht ausgehalten«, wiederholte meine Mutter.
»Ich glaub, dir geht’s zu gut!« Die Flecken auf dem Schädel meines Großvaters wurden größer und dunkler. »Hast du überhaupt eine Ahnung, was das bedeutet, etwas nicht mehr auszuhalten . In Kasan … «
»Oskar!«, rief meine Großmutter noch einmal und legte den Finger an die Lippen. Sie machte eine Kopfbewegung zum Fenster.
»Was denn?«, schrie mein Großvater noch lauter. Er schob die Blätter zusammen und ließ sie mit der Unterkante auf die Tischplatte stoßen. »Und wie bist du hierher gekommen, wenn ich fragen darf?«
Meine Mutter knotete ihre Finger ineinander. »Mich hat jemand mitgenommen.«
»Getrampt?«, schrie meine Großmutter, »getrampt isse, Oskar, getrampt!«
»Mit wem?«, fragte mein Großvater trocken.
Meine Mutter überlegte, aber sie konnte sich beim besten Willen nicht an Rudis Namen erinnern. Ihr Kopf war so schwer, dass sie sich anstrengen musste, nicht vornüberzufallen. »Einer von der Party.«
»Oh mein Gott!«, schrie meine Großmutter vorsichtshalber.
Mein Großvater rieb sich über die Stirn. Er legte den Ringfinger auf den Füller und schubste ihn hin und her. » LD : T 665, wenn ich nicht irre«, sagte er schließlich und zog die Augenbrauen nach oben.
Meine Mutter schaute auf.
»Grüner Ford Taunus, nicht wahr?« Er tippte sich gegen die Schläfe und dann aus dem Fenster, von dem aus man die Straße sehen konnte. »Ich weiß Bescheid.«
Meine Großmutter zog die Hand von der Schulter meiner Mutter und drückte sie stattdessen auf ihre eigne Brust.
»Und das war sein Auto?«
Meine Mutter nickte.
»Ich verstehe.« Er schob den Papierstapel ans Tischende und stellte einen Briefbeschwerer darauf, aus dem sich ein gläsernes »S« nach oben bog.
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