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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Stricker
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das vor ein paar Halbstarken den Schwanz einzieht!«, brüllte mein Großvater an ihrem Ohr und packte sie an den Schultern.
    »Oskar!«, rief meine Großmutter.
    »Was?«
    »Das Kind hat doch schon genug durchgemacht!«
    »Ein Loch im Kopf ist noch lange kein Grund, die Zügel schleifen zu lassen«, brüllte er.
    Er ließ meine Mutter los und setzte sich auf die Couch, die dort natürlich eigentlich nicht zum Sitzen, sondern nur zum Anschauen stand. »Ich weiß nicht, was schlimmer ist. Dass du so dumm warst, dein Leben aufs Spiel zu setzen. Oder dass du mit dem Schrecken davongekommen bist.« Er blickte aus dem Fenster und rieb sich gedankenverloren den Bart, den er schon seit seiner Rückkehr aus Russland nicht mehr hatte.
    Meine Mutter nickte wieder.
    »Willst du etwa eine von denen werden, die bei jeder Kleinigkeit kneifen.«
    Meine Mutter schüttelte den Kopf.
    »Will mir erzählen, sie hat es nicht ausgehalten, ein paar Stunden Musik zu hören und sich nett mit ihren Klassenkameraden zu unterhalten.«
    »Du kannst dir nicht vorstellen, wie hohl die alle waren«, flüsterte meine Mutter.
    »Ein Grund mehr, durchzuhalten!«, schrie mein Großvater. »Ins Gesicht hättest du denen lachen sollen!« Er riss den Arm in die Luft. »Da schlägt man zurück!« Er starrte sie an. Seine Hand krallte sich zur Faust. Und vielleicht wollte er einfach beweisen, dass er das nicht nur so dahergesagt hatte. Meine Mutter wehrte sich nicht, als er sie zu sich zog, sie wie eine Decke über seinem Schoß ausbreitete und das Kleid nach oben schob. Schaute nicht auf, als meine Großmutter Ohmeingottohmeingottohmeingottohmeingott jammerte, als er ihren Kopf nach unten drückte, ausholte und sie dann doch wieder von seinen Knien hob und vor sich aufstellte.
    »Nein«, sagte er, »den Po versohlt man kleinen Kindern. Du bist alt genug, deiner Strafe ins Gesicht zu sehen.« Sein Grübchen schob sich vor und zurück wie ein kauender Mund. »Verstehst du?«
    Meine Mutter schwankte zur Seite.
    »Ob du mich verstehst, hab ich gefragt?«, schrie er.
    Und meine Mutter? Nickte wieder. Zuckte nicht mal zurück, als seine Hand auf ihre Wange sauste, »was ihm mehr weh tat als ihr«, wie meine Großmutter sich auch Jahre später noch gezwungen sah zu ergänzen. Seine ganze Kraft musste er zusammennehmen, so sehr schmerzte es ihn, ihr Schmerzen zuzufügen, aber »was muss, das muss«. Er schlug zu, so fest er konnte. Der kleine Kopf meiner Mutter flog zur Seite.
    »Lass sie!«, brüllte er, als meine Großmutter herbeistürzte, und zu meiner Mutter: »Schau her! Hier spielt die Musik!«
    Aber sie sah ihn nicht, so sehr sie auch versuchte, die Lider oben zu halten. Sah nicht das Zucken in seinem Mundwinkel, wenn er ausholte. Nicht die vor Anstrengung knitternde Stirn, auch wenn er vom nächsten Morgen an jedem erzählte, dass er seiner Tochter »auf Augenhöhe« begegne, »in guten wie in schlechten Zeiten«. Alles was sie sah, war seine Hand, die gegen ihr Gesicht prallte, einmal, zweimal, viermal, die silbrige Stelle in der Mitte, die sie an der Schläfe traf, sechsmal, und noch mal, und den Schmerz, der schwarz und rot war und nach Galle schmeckte, der sich über sie stülpte und ihr schließlich doch die Augen zudrückte.
    »Oskar!«, hörte sie meine Großmutter in den Pausen kreischen.
    »Bleibst du stehen«, brüllte er, als sängen sie im Duett, und meine Mutter blieb, rührte sich nicht, bis die Schläge schwächer wurden.
    »Das dürfte reichen«, sagte er schließlich und räusperte sich.
    Meine Mutter versuchte die Augen zu öffnen, aber so ganz wollte es ihr nicht gelingen. Wie durch einen über den Kopf gezogenen Pullover sah sie, wie mein Großvater seinen Arm ausschüttelte, die Finger knetete, »und jetzt wag’s nicht beleidigt zu sein!« sagte, während meine Großmutter in ihrem Rücken schluchzte. Er räusperte sich noch mal, schaute auf seine Uhr.
    »Wird höchste Zeit, dass das Kind ins Bett kommt«, brummte er, »schlaf jetzt« und meine Mutter gehorchte auch diesmal und schlief noch beim Ausziehen ein. Meine Großmutter fand sie, das Kleid unterm Kinn zusammengeknüllt wie eine Halskrause, auf dem Badezimmerteppich liegen. Sie klemmte sich das halbnackte Bündel unter den Arm, erklärte meinem Großvater, dass ihre Migräne heute Abend besonders schlimm sei, es würde sie nicht wundern, wenn die diesmal gleich ein paar Tage anhielte, und packte meine Mutter ins Bett.
    »Du bist doch alles, was ich habe«, flüsterte sie,

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