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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Stricker
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Mit letzter Kraft schaffte es meine Großmutter, ihr aufzumachen und sich vor ihre Füße zu werfen, woraufhin die Nachbarin selbst ein bisschen schrie, dann aber relativ schnell die Lage erkannte und sowohl meine Mutter als auch meine Großmutter ins Krankenhaus fuhr, wo Letztere erstmal ein Beruhigungsmittel bekam.
    Meine Mutter selbst hatte zu warten. Die Station war wie gesagt furchtbar voll, das Personal obendrein furchtbar faul, wenigstens wenn man meinem Großvater glaubte, der dann irgendwann doch kam und das Ruder übernahm. Im Einzelnen bedeutete das, dass er ins Schwesternzimmer stapfte und mit Auditoriumsstimme erklärte, dass er keinerlei Sonderbehandlung wünsche, ach, wo bleiben denn meine Manieren, Schneider, ja, ebender, wobei er zielsicher den einen Mantel auf der Stuhllehne ansteuerte, in dem das geschwungene »S« im Futter blitzte, und zärtlich darüberstrich. »Tausend« und »vielen« und »furchtbar vielen« Dank säuselnd, lehnte er die angebotenen Kekse ab und hielt sie stattdessen mit gönnerhafter Miene den Schwestern hin, als habe er sie eben eigenhändig aus dem Ofen geholt, ich bitte Sie, Sie können doch nicht mehr auf die Waage bringen, als meine kleine Tochter, was Sie nicht sagen?, ich hätte Sie höchstens halb so alt geschätzt, bis sich eine von ihnen anbot, einen Arzt zu holen.
    Der hätte aber wohl auch erstmal einen Keks gebraucht. Seine Laune war nach den vielen Quetschwunden so mies, dass er einer völlig unversehrten 14-Jährigen mit vormontäglichen Kopfschmerzen keine große Aufmerksamkeit schenkte und sie mit einem Päckchen Aspirin nach Hause schickte, wo sie dann schließlich bewusstlos wurde. Oder vielleicht auch gleich ins Koma fiel. Mein Großvater telefonierte einen anderen Arzt herbei, einen Mithäftling aus Kasan, der damals wohl auch den Zehenstumpf des Freundes, zwinkerzwinker, so gut verarztet hatte, dass der mit seinen neun heute besser unterwegs sei als so mancher mit zehn gesunden Zehen, und meine Mutter nach kurzer Untersuchung in sein eigenes Krankenhaus nach Heidelberg bringen und dort in ein CT schieben ließ, das dann auch tatsächlich eine heftige, aber, nicht doch, kein Grund zu weinen, Gnädigste, keineswegs bedrohliche Epiduralblutung zeigte. Man bohrte ihr ein Loch in den Schädel, meine Großmutter bekam so schlimme Kopfschmerzen, dass die Schwestern ihr eine Liege leerräumen mussten, auf der sie lautstark gegen die Ohnmacht ankämpfte, bis meine Mutter aus dem OP kam. Nach ein paar Stunden konnte sie wieder aufstehen. Meine Mutter hingegen musste drei Wochen im Bett bleiben, die sie, auch das dank des Kasanfreunds, jedoch größtenteils zu Hause abliegen durfte. Zu tun gab es wenig. Aber davon jede Menge. Lesen. Mehr Lesen. Schlafen. Noch mehr lesen. Essen. Beim Essen Lesen. Nach dem Essen Weiterlesen. Schlafen. Zwischendurch kam meine Großmutter ins Zimmer, schüttelte die zehn Kissen auf und ließ sich ein bisschen trösten ob all der Dinge, die da ja schon wieder hätten passieren können und in ihrem Kopf derart real waren, dass sie beim Gedanken daran doch ein paar Tränen zerquetschte, bis sie vor Erschöpfung neben meiner Mutter einschlief.
    Und die weiterlesen konnte.
    Der Kasanfreund hatte ihr aufgetragen, »mal ein bisschen zu faulenzen«, »fünfe grade sein« und »es sich gutgehen« zu lassen. Ruhe sei das beste Heilmittel. Bei meiner Mutter entfaltete das jedoch leider die gegenteilige Wirkung: Je weniger sie tat, desto angespannter wurde sie. Die Beine unter der Bettdecke zappelten umher, ihr Verstand suchte verzweifelt nach Fragen, die er beantworten könnte. Aber das Schlimmste waren die Nebenwirkungen: Sie wurde noch klüger. Am Ende der ersten Woche hatte sie bereits ihre Monatsliste und obendrein den Lehrplan fürs komplette Schuljahr durch. »Ich kauf dir jedes Buch, das die im Laden haben«, sagte mein Großvater. Und »jedes« war genau das, was meine Mutter lesen wollte. Ihre Wange wurde blau, dann grün, dann gelb, dann weiß, und als sie schließlich zurück in die Schule durfte, war die geschlossen. Winterferien. Also lernte sie noch mal zwei Wochen weiter, bis sie zu drei Erkenntnissen kam (man verbringt eben nicht sein halbes Leben mit meinem Großvater, ohne dass was hängenbleibt).
    Die erste war, dass sie für ihre Klasse völlig verdorben war. Die Unterforderung und vor allem die Zurschaustellung derselben nahm solche Ausmaße an, dass die Klassenlehrerin entnervt vorschlug, sie solle doch eine Klasse

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