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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Stricker
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    Die zweite Erkenntnis war, dass es in deutschen Krankenhäusern nicht nur an Engagement, sondern auch an Grips fehlte. Meine Mutter verfügte über beides, was sie auf die Idee brachte, Ärztin zu werden. Zumindest war das die Erklärung, die sie gab, wenn sie jemand danach fragte. In Wahrheit war der Grund wohl ein anderer, einer, den sie sich mal wieder bei meinem Großvater abgekuckt hatte: Kenne deinen Feind. Ich glaube, insgeheim hoffte sie, durch das Medizinstudium so viel Wissen über den Körper anzuhäufen, dass sie ihn besiegen könnte, ihn ruhigstellen, sodass sie und ihr Verstand endlich ungestört glücklich werden könnten. Vor allem wollte sie sich ein für allemal gegen die mieseste Hinterlist aus ihrem Inneren wappnen, wobei wir bei der dritten und wichtigsten Einsicht wären: der, dass Liebe eine Krankheit ist.
    Nachdem die Gefühlswallungen, die in jener Nacht »aufgetreten« waren, mit dem Abklingen der Schwellung ebenfalls verschwanden, war sie mehr denn je der Überzeugung, dass Verliebtsein lediglich das Symptom eines Mangels sei, eines Fehlers im System, den der menschliche Organismus durch ein trügerisches Glück überdeckt, so wie bei Menschen, die kurz vor dem Tod plötzlich einen Energieschub erleben. Selbst als sie jenes Glück selbst kennenlernte, und merkte, wie viel mehr es war, als das Herzrasen von damals, suchte sie weiter nach einer physischen Ursache, so wenig konnte sie glauben, dass sie allein für all den Unsinn verantwortlich sein sollte, den sie da zusammenfühlte. Und ganz allein war sie das ja vielleicht auch nicht. Vielleicht lag es ja tatsächlich auch ein Stück weit an dem, was da in ihrem Körper vor sich ging, dass sie sich plötzlich wie eine völlig Fremde benahm. Auch wenn es kein Zuwenig, sondern ein Zuviel war, das ihr Herz aus dem Tritt brachte. Aber das erfuhr sie erst, als schon alles vorbei war.

4. Kapitel
    Meine Mutter tat sich so schwer mit der Liebe, dass auch ihr Hass etwas Bemühtes, geradezu Verzweifeltes hatte, wie wenn ein Kind versucht, in Stöckelschuhen zu gehen. Sie strengte sich an, wollte wenigstens hier alles geben, aber solange ihr das Gegengewicht fehlte, kippte sie immer wieder vornüber. Ihr Hass wog zu schwer für die winzigen Vergehen, die sie zur Begründung anführen konnte, war zu absolut, als dass man ihn ihr hätte glauben wollen, vor allem, weil er einfach viel zu vielen galt, der Michaela, den Partygästen, im Grunde allen Menschen ihres Alters, allen, die jünger waren und sich dementsprechend verhielten, allen, die älter waren und sich nicht dementsprechend verhielten, der Lehrerschaft, der Ärzteschaft. Und im Herbst nach dem Unfall waren es eben die neuen Mitschüler, die sie hasste. Aus vollem Herzen. Weil sie angeblich noch viel kindischer waren als die alten. Und so dumm. So dumm, dass meine Mutter schon nach wenigen Wochen wieder Klassenbeste war. Weil sie, anstatt das vielleicht mal als Ansporn zu nehmen, die Stunde lieber dazu nutzten, zweideutige Witze zu machen, von denen meine arme Mutter weder die eine noch die andere Bedeutung verstand, sodass sie letztendlich beschloss, dass es das Klügste sei, sich von der ganzen Meute fernzuhalten.
    Aber ausnahmsweise waren die anderen mal in einer Sache noch besser als sie: Wo immer sie sich hinsetzte, blieben die beiden Plätze daneben frei  – was ihr jedoch die Freundschaft mit Babsi einbrachte, eine Freundschaft, die ein Leben lang halten sollte, obwohl  – » weil , mein Gott, weil !«  – die beiden so gut wie nichts gemeinsam hatten. Bis vielleicht auf das eine: Sie mochten die Schule. Meine Mutter die Bücher. Das Lernen. Die guten Noten. Babsi die Briefchen unterm Tisch. Die Pausen. Die Freistunden. Die waren so unterhaltsam, dass sie fast immer zu spät kam und zwangsläufig neben meiner Mutter landete, die »diese Barbara«, wie sie anfangs hartnäckig sagte, allein schon des bekloppten Spitznamens wegen für ein bisschen dämlich hielt (womit sie, nichts für ungut, jetzt wohl auch nicht sooo falsch lag). Aber auch abgesehen davon hätten die beiden kaum unterschiedlicher sein können.
    Zum einen verkörperte Babsi die Phantasie eines jeden schamvoll ein Buch übers Hosenzelt pressenden Halbwüchsigen . Die Betonung liegt auf Körper. Sie hatte einen absurd runden Mund, der immer einen Spalt weit offen stand, einen prächtigen Busen, einen noch prächtigeren Hintern, weiche, blonde Locken, oben wie unten, wie auf dem Jungsklo nachzulesen war,

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