Fünf Kopeken
während sie die Enden des Lakens unter die Matratze stopfte, wie den Gurt, den sie nicht gehabt hatte, was da alles hätte passieren können, nicht auszudenken.
Meine Mutter schreckte erst mitten in der Nacht wieder auf, in Schweiß gebadet. Sie zog die Decke weg, aber statt ihrer Beine sah sie nur Schilf, das aus der Matratze wuchs. Sie wunderte sich ein bisschen, dass Schlingpflanzen im Winter gediehen, aber ihr war zu übel, um darüber nachzudenken. Der Fluss unter ihr schäumte gegen die Bettpfosten, und dann stand plötzlich Rudi vor ihr. »Komm, ich bring dich nach Hause«, rief er und winkte ihr zu.
Ich bin doch schon zu Hause, dachte sie, aber da sah sie ihn auch schon auf sie zukommen, spürte, wie ihr Herz in den Schädel schlug die Pauke, ja wir machen durch bis morgen früh, wer hat die denn reingelassen zog sie hinter sich her am Ufer entlangsam rief sie langsam mir ist schlecht, nicht so schneller, immer schneller rannte er, ihre Backe schleifte über den Boden, sie versuchte, sich loszumachen, aber er hielt ihren Arm feste, na los feste, sie spürte seine Lippen auf ihrer Haut ihr eine runter, dass es knallt gegen die Scheibe ist kalt, so kalt. In ihrem Magen gluckerte es. Und auf einmal verstand sie, was mit ihr passierte: Sie war verliebt.
Das ist es also, von was alle reden, dachte sie, öffnete den Mund und erbrach das ganze Herzklopfen in die Toilette.
Sie wischte sich den Mund ab und versuchte, sich aufzustützen, aber die Klobrille wich ihr aus. Ihr Arm griff immer wieder ins Leere, bis sie endlich das Waschbecken zu fassen bekam. Sie zog sich hoch, wankte den Gang entlang. Von irgendwoher hörte sie es wieder rauschen, dann zog ihr jemand die Füße weg. Ein spitzer Schrei fuhr ihr in die Brust. »Wie? Was?«, rief sie, sprang auf, aber ihr Körper blieb liegen. Sie sah die Absätze, die vor ihr zum Stehen kamen, den Blümchenstoff über ihrem Gesicht, spürte den Griff um ihre Brust und wie sie zurück auf den Boden sackte. Sie hörte das Klappern auf dem Parkett. Dann lief ihr Kopf mit Dunkelheit voll.
Meine Großmutter hingegen steigerte sich innerhalb weniger Sekunden in eine Panik hinein, wie es nur jahrelanges Training erlaubt. Mein Großvater war schon weg, und um selbst mit der Situation umzugehen, war der Prozess ihrer Selbstauflösung längst zu weit fortgeschritten. Sie stürzte also den Flur entlang zum Telefon. Griff nach dem Hörer. Ließ ihn fallen. Schrie auf. Zog ihn an der Schnur nach oben. Steckte den Finger in die Wählscheibe. Blieb hängen. Schrie wieder. Wählte von vorne. Eins der Fräulein nahm ab. Nein, der Chef sei im Lager, ob man was bestellen dürfe. Ihn holen? Ja, natürlich. Und als es endlich so weit war, dass sie meinem Großvater ins Ohr schreien konnte, waren ihr die Worte abhandengekommen. Mehr als ein Keuchen war nicht mehr übrig.
Mein Großvater, der immerhin ein sehr beschäftigter Mann war, sagte »Hilde, jetzt überlegst du dir erstmal, was du sagen willst, und dann rufst du mich noch mal an«, und drückte auf die Gabel.
Meine Großmutter starrte in die Muschel. Und schrie. Sie presste den Hörer erneut ans Ohr, aber jetzt wollten ihr die Finger gar nicht mehr gehorchen. Sie zitterte so, dass sie das Telefon vom Tisch riss und mit ihm die Vase meiner mittlerweile ebenfalls verstorbenen nicht-Berliner Urgroßmutter, ließ sich auf den Boden fallen und versuchte, das Telefon hervorzuziehen, während es lang und unerbittlich tutete. Sie zerrte an der Schnur, die sich um die Tischbeine gewickelt hatte und immer weiter wickelte, während sie das bisschen Verstand, das ihr die Angst noch ließ, dazu missbrauchte, den »Herrgott im Himmel!« um Hilfe anzuflehen, die dieser jedoch erstmal nicht schickte. Stattdessen rammte er ihr einen Splitter in den Daumen, sodass meine Großmutter, na was wohl: schrie. In dem völlig die Prioritäten verkennenden, dank perfekter Dressur jedoch unbezwingbaren Bemühen, der von meinem Großvater ausgegebenen Order, ihm »jo kän Flegge uf de guude Läufer zu mache« Folge zu leisten, drückte sie den blutenden Daumen mit den übrigen Fingern ab und reckte den Arm in die Luft, während sie mit dem anderen nach dem Telefon grapschte wie eine Katze nach einem Wollknäuel, schrie und schrie und schrie, keine Luft mehr bekam, trotzdem weiter schrie und wohl ihrerseits ohnmächtig geworden wäre, wenn nicht endlich eine Nachbarin an der Tür geklopft und schüchtern gefragt hätte, ob denn bei ihnen alles in Ordnung sei.
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