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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Stricker
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wir als Elite, nicht zuletzt sei es staatsmännische Pflicht wieder aufzubauen, was ja, zu Recht, aber eben doch zerstört, ansonsten wüsste doch niemand, Geschichte wiederhole sich bekanntlich, nicht dass am Ende, die Vergangenheit sei ja drüben, anders als hier, nie aufgearbeitet worden, Armut bekanntlich das beste Futter für den Faschismus. Nie. Wie. Der.
    »Es geht auch um Verantwortung«, rief er und war sich selbst für ein »Sollen deine Eltern etwa umsonst gestorben sein?« nicht zu schade.
    Die Unterlippe meiner Großmutter begann merklich zu zittern. Sie drehte sich zum Herd und hustete in ihr Weinsößchen.
    »Und außerdem«, brüllte mein Großvater, berauscht von seinem eigenen Untergangsszenario, außerdem stehe ihm dieser ganze Etepetetefraß bis hier, er wolle endlich mal wieder was Gscheits essen, woraufhin meine Großmutter vollends die Fassung verlor. Und sie im Grunde nicht wiederfand, bis sie in Berlin eintrafen.
    Die Reste des Hauses, die nach dem Bombenangriff übrig geblieben waren, standen tatsächlich noch. Vom Onkel her gäbe es sogar noch eine Villa, in der allerdings mittlerweile eine karitative Vereinigung untergebracht sei, wie die Dame der Pankower Stadtverwaltung am Telefon sagte. »Das holen wir uns später. Erstmal müssen wir eben zusammenrücken«, rief mein Großvater. Seine Hybris kam zu ihm zurück wie eine alte Liebe und wich ihm nicht mehr von der Seite.
    »Ihr habt doch keine Sicherheiten«, sagte die Gundl, »man weiß doch gar nicht, wie sich das da oben entwickelt.« Aber als Sachverwalter der Wahrheit bestimmte mein Großvater darüber, was sicher war und was nicht.
    Auf dem Laden flatterte neben der Fahne mit dem Firmenwappen nun auch eine Deutschlandflagge. Innerhalb weniger Wochen stellte mein Großvater mehrere neue alte Landsmänner ein und schwärmte, mehr vor als mit ihnen, vom Osten, der schmerzlich vermissten Heimat, der Wiege deutscher Kultur, vor allem aber dem weißen Fleck der Geschmacklosigkeit auf der Landkarte, der nun endlich in den Genuss von Mode aus der großen weiten Welt käme. Halleluja.
    »Sieh sich doch mal einer diese Fetzen an!«, rief er begeistert, wenn sie abends die Tagesthemen schauten, »was da für ein Potential brachliegt. Da muss man zugreifen!«
    Übers Zugreifen sprach er jetzt oft. Ganz Berlin war ihm ein Sonntagsbüfett, an dem man sich bedienen musste, solange man durfte.
    Für die Krankheit meiner Großmutter war da kein Platz.
    »Natürlich schaffst du das«, rief er empört, »im Gegenteil. Dir wird’s da oben viel besser gehen. So was wie unseren Laden haben die doch noch nie gesehen. Wenn sich erstmal rumgesprochen hat, dass es bei uns nicht nur Kartoffelsäcke gibt, läuft das Ding wie von selbst. Dann werd ich viel mehr Zeit für dich haben.«
    »Und was wird aus dem Kind?«, wagte meine Großmutter einen letzten Versuch, das Projekt zu stoppen.
    »Was soll aus dem werden?«, rief mein Großvater. »Kommt mit.«
    Aber meine Mutter kam nicht mit. Eines Abends, die Umzugsvorbereitungen waren schon in vollem Gange, schlug sie in einem Anfall von Schneid mit der Gabel gegen ihr Glas und verkündete zitternd vor Mut, dass sie bleiben werde.
    »Ich glaube, ich wollte einfach mal sehen, ob ich es kann«, sagte sie und lächelte betreten, weil sie den Ausgang der Geschichte ja schon kannte.
    »Du whasch?«, rief mein Großvater durch die Kartoffel in seinem Mund und verschluckte sich so, dass meine Großmutter ihre gerade anrollende Hustenattacke unterbrechen musste, um stattdessen seinen Rücken zu klopfen.
    Sie habe sich das gut überlegt, sagte meine Mutter, auch wenn sie sich auf einmal an keine dieser Überlegungen mehr erinnern konnte. Es sei Zeit für sie, auf eigenen Füßen, alt genug  …
    »Nicht ohne meine Tochter«, schrie meine Großmutter, was damals noch niemand lustig fand, »dann bleib ich auch!«
    »Gewidder Dunnerkeil, keiner bleibt«, krächzte mein Großvater und tastete mit flammend rotem Gesicht nach der Sprudelflasche.
    Meine Mutter drehte den Verschluss auf und schenkte ihm ein. Sie hielt ihm das Wasserglas hin und holte Luft, ließ endlich jenen Stoßseufzer der Pubertät erklingen, den ihr niemand, am wenigsten sie sich selbst, zugetraut hätte: »Doch.«
    Mein Großvater verschluckte sich gleich wieder.
    Es sei auch wegen der Uni viel besser, sagte sie schnell, solange seine Sprachlosigkeit anhielt, im Sekretariat habe man ihr gesagt, dass sie die meisten Prüfungen wiederholen müsse, im

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